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Weihnachten 2000
gesendet am 26. Dezember 2000 von Dr. Hans Frisch
 

"Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn" Jeder dürfte diesen Satz schon gehört haben, er gehört zu Weihnachten so wie "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen". Der Satz stammt aber nicht aus der Weihnachtsgeschichte, Paulus hat ihn geschrieben - in einem Brief an die Galater. Heilig Abend und Erster Feiertag sind vorbei - da könnten wir uns einmal die Zeit nehmen, um über die Zeit nachzudenken. "Weiß doch jeder, was Zeit ist" - meinst Du vielleicht. Aber so einfach ist das nicht.

"Es ist höchste Zeit, über die Sendung am zweiten Feiertag nachzudenken" meinten wir, als der Termin näher rückte.
"Fünf Tage sind doch eine lange Zeit" versuchte ich mich zu beruhigen. Das sind schon zwei verschiedene Zeiten: die subjektive Zeit - die ich habe oder die ich brauche und die objektive Zeit - gemessen von der Uhr und dem Kalender. Eigentlich ist noch eine dritte Zeit dabei: der "Zweite Feiertag", eine gemeinsame, gesellschaftliche Zeit, die für uns alle zusammen gilt. Wie das so vor Weihnachten ist - man hat aufgeschoben, bis es schließlich erledigt werden muß: die letzten Geschenke, der Einkauf für das Familienessen, der Weihnachtsbaum, und, und ...

Und plötzlich weiß ich:
"Setz dich hin und formuliere, was dir durch den Kopf gegangen ist - jetzt ist der Zeitpunkt da".
Das wäre ein vierter Begriff von Zeit. Also: Subjektive Zeit, objektive Zeit, gesellschaftliche Zeit, der Zeitpunkt. - "Kairos" sagen die Griechen dazu.

Welche Zeit meint Paulus, wenn er sagt: "Als aber die Zeit erfüllt war"? Doch am ehesten den Kairos, den Zeitpunkt, an dem etwas dran ist. Wie ich Paulus kenne, der hätte da entschieden widersprochen: "Nicht der Zeitpunkt ist gemeint, die Zeit, die ganze Zeit seit Grundlegung der Welt" - und wenn es den Begriff schon gegeben hätte: "seit dem Urknall".

So hat Paulus das nämlich gemeint: In Jesus Christus ist die Weltgeschichte an ein Ziel gekommen - ER ist das Ziel dieser Geschichte, alle Geschichte hat IHN vorbereitet. Geschichtliche Zeit könnten wir das nennen - wir müßten aber dann dem Mißverständnis vorbeugen, dass ein Zeitpunkt in der Geschichte gemeint sein könnte. Die ganze Geschichte ist die Zeit, um die es geht.

Für die Galater mußte das noch schwerer zu begreifen sein als für uns - sie waren griechisch gebildet - und sie waren in einem völlig anderen Weltverständnis aufgewachsen als wir im christlichen Abendland. Es war ein mythisches Weltverständnis. Nach der Musik wollen wir versuchen, uns das einmal näher anzusehen - wir haben ja Zeit.

* * * Musik * * *

Ein "mythisches Weltverständnis" hatten die griechisch gebildeten Galater - habe ich behauptet. Trotz Esoterik und ähnlichen Bemühungen dürfte es uns nicht möglich sein, das wirklich zu begreifen. "Mythos" ist einer der drei Begriffe, die Griechen für das halten, was wir "Wort" nennen. "Logos" ist der zweite und "Epos" der dritte.

Logos meint das Wort, das Dinge und Zusammenhänge benennt - logisch. Epos meint das dichterische Wort, den treffenden Ausdruck. Mythos - das könnten wir mit Kunde, mit "Geschichte von" übersetzen. Es meint Geschichten, die den "Ursprung von etwas" berichten, von Himmel und Erde, von Bergen und Quellen, von Tag und Nacht, von Wachsen und Reifen, von Leben und Tod - von allem was ist. Denn in allem sind Götter oder Gottheiten (oder sollten wir sagen, "alles sind Gottheiten"?). Der Blitz ist Zeus in seiner Gewalt, Poseidon ist das Meer, und in allen Quellen sind Nymphen lebendig.

Demeter ist das Wachstum der Ernte - und der Frühling ist die kurze Rückkehr ihrer Tochter Persephone aus der Unterwelt auf die Erde. Geschichten der Götter und zwischen den Göttern sind der Ursprung allen Seins - und im religiösen, mythisch-kultischen Fest wird die Gegenwart dieses göttliche Sein. Wenn Demeter im mythisch-kultischen Fest bei der Aussaat mit ihrer Wachstumskraft in die Felder zieht, dann kann sie dort wirken und wachsen bis zum Fest der Ernte - jedes Jahr wieder. Es konnte passieren, dass ein Hirte mit panischem Schrecken ins Dorf gestürzt kam und die Mittagsruhe mit seinem Schreien vertrieb - er hatte da draußen Pan gesehen, den Gott der Hirten und der Herde mit dem Kopf eines Bockes - das konnte eine Panik erzeugen. Wenn eine Nymphe sich aus einer Quelle zurückzieht, dann versiegt die - ein richtiges mythisches Fest kann sie hoffentlich zurückrufen (oder ein Opfer für die Beleidigung, die sie vertrieben hatte).

So ist die ganze Wirklichkeit göttliches Wesen, und der Mythos gibt Kunde davon. Im mythischen Fest wird der Ursprung und damit die ewige Wirklichkeit der Gottheiten gegenwärtig - hier und jetzt ist heilige, mythische Zeit - wirkliche Zeit. Zwischen den Festen - das ist "danach" oder "davor".

Einen Rest Ahnung davon können wir zu Weihnachten spüren - wenn es glückt. Deshalb sind wohl zu diesem Fest die Kirchen so voll. Aber unsere Welt ist "entmythologisiert" - ein tolles Wort: "Mythos" und "Logos" in einem Wort verkünden den Untergang des Mythos im Sieg des Logos - der rationalen, verstandenen, logischen Wirklichkeit.

Der Jude Paulus hatte die mythische Welt erlebt in seiner Heimatstadt Tarsus, an der Südküste der heutigen Türkei. Doch seine Herkunft hatte eine andere Wurzel und seine Ausbildung führte ihn nach Jerusalem. Und dort ist er uns viel näher als die griechische Welt, denn hier sind die Wurzeln des christlichen Abendlandes - und Paulus hat nicht geringen Anteil an dessen Entstehen. Habt ihr Zeit? Nach der Musik geht es weiter.

* * * Musik * * *

Im Vergleich zu der mythischen, von Gottheiten erfüllten Welt der Griechen ist die Welt der Juden fast gottlos. Der eine Gott hat sie damals im Anfang geschaffen - und da ist sie nun. Alle Götter der Völker sind Illusionen oder Menschenwerk. Dafür ist dieser eine Gott aber ganz persönlich geworden - Abraham hat er angesprochen, hat ihn aus seiner mythischen Umwelt in Mesopotamien herausgerufen und hat ihn in ein neues Land geführt, hat ihm versprochen, dass dort ein Volk aus seinen Nachkommen leben soll, und dass dies sein Gottesvolk werden soll. Isaak und Jakob, der Sohn und der Enkel bekommen nochmals Verheißungen - deshalb heißt dieser Gott "der Gott Abrahams Isaaks und Jakobs".

So nennt er sich selbst, als er später Moses im brennenden Dornbusch dort im Sinai erscheint. Als Mose nach seinem Namen fragt, da bekommt er die Antwort: "Ich bin der ich es sein werde". Da wird offenbar, dass hier eine ganz neue Gottesoffenbarung, eine neue Gotteswirklichkeit in der Welt erscheint: Nicht der Gott, der in jener Urzeit Weltwirklichkeit geworden ist, und seitdem in mythischer Wirklichkeit da ist - ein Mythos aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart - sondern, ein Gott, der sich wieder und wieder in der Geschichte offenbaren wird - ein Gott der Gegenwart und in die Zukunft. Aus dem Naturmythos der Völker wird der Geschichtsmythos des Volkes Gottes. Deshalb ist die Geschichte von diesem Volk (und von allen Völkern die mit ihm zu tun haben) die Offenbarung von Gottes Wirken und von Gottes Wirklichkeit. Es fängt an mit dem Auszug aus Ägypten und dem Zug durch die Wüste zum gelobten Land, das Gott Abraham versprochen hatte.

Im Sinai, dort wo Mose diesem Gott im brennenden Dornbusch begegnet war, da kommt es zum Bundesschluß zwischen Gott und dem Volk. Und dann geht die Geschichte los: Eroberung des Landes und Abfall von diesem Gott - die mythischen Gottheiten der Umgebung waren viel lebendiger, natürlicher und nicht so anspruchsvoll. Katastrophal waren die Folgen, und das Volk erlebte in der Umkehr: "Unser Gott ist ein gnädiger Gott, seine Geschichte mit uns geht weiter". Schließlich war aus dem Sippenverband der Abrahmnachkommen ein mächtiges Volk geworden mit einem starken König - David.

Und wieder ging der Wechsel von Abfall, Katastrophe, Umkehr und Neubeginn weiter, aber auf immer höherem Niveau. Immer klarer erkannten die Propheten und immer mehr ahnten viele im Volk: "Die Geschichte hat ein Ziel, Gott wird mit uns an sein Ziel kommen. Irgendwann, bald werden wir wirklich Volk Gottes sein, wird das Reich Gottes anbrechen". Viele träumten von einem Führer und Befreier wie David - einem Gesalbten Gottes - der Gottes Reich aufrichten wird mit einem solchen Glanz, dass die Völker daran teilhaben wollen. Nur wenige verstanden die Propheten so: Gott wird seine Liebe und seine Gnade so offenbaren, dass aus der Vergebung eine neue Beziehung zwischen Gott und den Menschen, ein Neuer Bund entstehen wird.

In der Zeit, von der Paulus da redet, wenn er sagt: "Als die Zeit erfüllt war" - da war der Widerspruch gewaltig zwischen der Erwartung, dass ein politischer Führer und Befreier das Reich Gottes bringt und der politischen Wirklichkeit - das Land war von den Römern besetzt.

"Als die Zeit erfüllt war, da sandte Gott seinen Sohn", damit kommen wir zu Weihnachten. Vielleicht bekommen wir doch noch eine Ahnung von diesem Zeitbegriff des Paulus - wir wollen es nach der Musik versuchen.

* * * Musik * * *

Der Naturmythos in der griechischen Welt hat seine Wurzeln in der Vergangenheit, im göttlichen Ursprung, aus dem alle Wirklichkeit kommt und in dem alle Wirklichkeit ruht. Die jüdische Offenbarungsreligion dagegen ist auf die Zukunft gerichtet, auf die Entwicklung der Geschichte zu einem Ziel hin, dem "Reich Gottes". Im Abendland hat sich diese Weltsicht durchgesetzt - drum spricht man mit Recht vom "Christlichen Abendland" - auch wenn da nicht mehr allzuviel christlich ist. Eigentlich müßte es im "jüdisch-christlichen Abendland" heißen. Dass die naturwissenschaftliche Erkenntnis hier sich durchgesetzt hat, bis zur Deutung der Weltentwicklung die im Urknall beginnt und einst im Wärmetod des Kosmos enden wird, dass hier die gesellschaftliche Entwicklung mit immer neuen Revolutionen bis zur Demokratie und sogar zum Versuch des Sozialismus geschah, dass die Psychologie hier immer klarer die Entwicklung der Person in den Blick bekam, das hat mit dieser Weltsicht zu tun (wobei oft der jüdische Einfluß stärker war als der christliche!)

Paulus sah in der Ankunft, im Leben und im Kreuzestod von Jesus die Geschichte des jüdischen Gottesvolkes am Ziel - alles bisher war Vorbereitung, war Vorstufe, war Wachstum zu diesem Ziel hin. Die Zeit war erfüllt - jetzt konnte, jetzt mußte das ganz Neue kommen. "Da sandte Gott seinen Sohn". Die größte Revolution der Weltgeschichte fängt an mit einem Kind, mit einem Menschen, der schließlich einsam und verlassen am Kreuz stirbt. Nach dem Markusevangelium fing Jesus sein öffentliches Leben an mit der Aussage: "Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!" Wie ein Samenkorn, dass in die Erde fällt und stirbt, so wächst aus diesem kleinen Ereignis der Weltbaum des Christentums.

Vieles kann man an diesem Baum, an der "Gemeinde Christi" kritisieren - an der Tatsache, dass vom Christlichen Abendland das Schicksal der ganzen Welt geprägt wird, kann niemand vorbei. Ob diese Prägung - durch westliche Wissenschaft und westliche, das heißt abendländische Gesellschaftsstrukturen zum Heil oder Unheil gerät, das hängt wohl davon ab, wie weit wirklich Christentum dabei ist.

Die Bibel hat durchaus auch eine Vision davon, dass einmal die Zeit der Gottlosigkeit, des Unglaubens erfüllt sein wird und ein Antichrist die Menschheit in die Katastrophe führt. Und diesem Führer wird die Menschheit in Scharen folgen - Filmaufnahmen aus der jüngeren deutschen Geschichte können uns einen Eindruck davon geben. "Führer befiehl, wir folgen dir" so habe auch ich in meiner Kindheit mitgesungen.

Dem einen Führer, welcher die Weltrevolution der Erlösung gebracht hat, dem kann jeder nur einzeln folgen. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, diesem Einen zu begegnen, dessen Geburtstag wir feiern. Ich würde uns wünschen, dass daraus eine Beziehung auf Dauer entsteht.

Dr. Hans Frisch

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