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Teilaspekte des Lebens als Maßstab gesendet am 8. Dezember 2002 von Elsbeth Rosen
 

Vor einigen Jahren wurden in Indianapolis in den USA die nationalen Leichtathletik- Meisterschaften ausgetragen. Eine der Top-Favoritinnen für den 10 000 m Lauf der Damen war die Medizinstudentin Kathy Ormsby. Sie hielt den College-Rekord in dieser Disziplin. Während des Endlaufs brach sie plötzlich ein. Sie fiel weit zurück und sah keine Chance mehr den Vorsprung der Läuferin an der Spitze aufzuholen. Mit einem plötzlichen Schwenk rannte sie von der Bahn, aus dem Stadion hinaus zu einer nahegelegenen Brücke, und stürzte sich hinab. Weil sie den Wert ihres Lebens mit ihrer Leistung gleichsetzte, warf sie es weg, als der Erfolg ausblieb.
"Du bist nur so viel wert wie deine Leistung", diese Einstellung scheint ein unvermeidlicher Bestandteil unserer Leistungsgesellschaft zu sein. Wir wollen wissen, wie viele Versicherungen ein Vertreter verkauft hat, welchen Notendurchschnitt ein Schüler erreicht, wie viele Siege ein Sportler aufzuweisen hat, wie viel Geld einer auf dem Konto hat. Das sind doch die Kennzeichen eines erfolgreichen Menschen. Aber irgendwie haben wir Charakter und Glaubwürdigkeit mit Äußerlichkeiten durcheinander gebracht.

Natürlich sagen unsere Leistungen etwas über uns aus, aber sie sind nie eine vollständige Antwort auf die Frage, wer wir sind. Wenn ein Schüler eine Eins oder eine Sechs bekommt, heißt das doch nicht, dass er eine Person erster oder sechster Klasse wäre. Aber genauso werden Noten von Schülern, Eltern und oft auch Lehrern missverstanden. Nicht ohne Grund stehen jedes Jahr am Tag der Zeugnisausgabe Psychologen bereit für Schüler mit schlechten Noten.
Das Einkommen sagt überhaupt nichts aus über den Wert eines Menschen, doch in unserer Gesellschaft lautet die Botschaft nur allzu oft: "Hast du was, dann bist du was. Wertvoll bist du nur dann, wenn du die Erfolgsleiter hinaufsteigst, wenn du Leistung bringst". Deshalb stehen und fallen Selbstwertgefühl und Wohlbefinden vieler Menschen mit dem Erfolg in der Schule, im Beruf, auf dem Sportplatz usw. Manche kommen bis an die Schwelle des Selbstmords, wenn sie plötzlich nicht mehr die gewohnte Leistung bringen können, wenn die gewohnte Anerkennung fehlt, sei es, weil sie in Rente gegangen sind, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil sie sich selbst zu hohe Ziele gesetzt haben oder weil ihr Körper plötzlich streikt.

Dasselbe gilt auch für andere Teilbereiche unseres Lebens, die wir neben Leistung und Erfolg gerne zum Maßstab für unser Selbstwertgefühl machen. Da ist zum Beispiel der Jugend- und Schönheitswahn. Das deutsche Fotomodell Karin Feddersen stürzte sich mit 36 Jahren in München aus dem vierten Stock. Sie hatte Angst vor dem Alter. Schönheitschirurgen haben Hochkonjunktur. Wenn es möglich ist, mit 60 Jahren noch wie 30 auszusehen, dann muss man die Chance doch nutzen. Wer sein Selbstwertgefühl von seiner Ehe oder Familie abhängig macht, fällt in ein tiefes Loch, wenn beide auseinanderbrechen.

Wie soll ein Behinderter seinen Wert einschätzen, wo doch heute Spätabtreibungen von behinderten Embryos gang und gäbe sind, wo es technisch möglich ist, perfekte Designer-Babies in der Retorte zu schaffen.? Wird Behinderten damit nicht schon wieder der Stempel "lebensunwert" aufgedrückt?
Die Antwort auf die Frage: "Was ist mein Leben wert?" darf sich nicht auf einen Teilbereich meines Lebens beschränken, sie muss meine ganze Existenz umfassen und kann nicht von mir selber kommen. Immer wenn Menschen aus sich selbst heraus ihren Wert oder den der anderen festlegen, gibt es ein Zerrbild. Die Antwort kann nur lauten:" Wechsle die Perspektive. Betrachte dich doch einmal mit den Augen Gottes, der dich erschaffen hat, dem du wertvoll genug bist, dass er seinen Sohn für dich gegeben hat."