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Vor einigen Jahren wurden in Indianapolis in den USA die nationalen
Leichtathletik- Meisterschaften ausgetragen. Eine der Top-Favoritinnen für
den 10 000 m Lauf der Damen war die Medizinstudentin Kathy Ormsby. Sie hielt
den College-Rekord in dieser Disziplin. Während des Endlaufs brach sie
plötzlich ein. Sie fiel weit zurück und sah keine Chance mehr den
Vorsprung der Läuferin an der Spitze aufzuholen. Mit einem plötzlichen
Schwenk rannte sie von der Bahn, aus dem Stadion hinaus zu einer nahegelegenen
Brücke, und stürzte sich hinab. Weil sie den Wert ihres Lebens mit
ihrer Leistung gleichsetzte, warf sie es weg, als der Erfolg ausblieb.
"Du bist nur so viel wert wie deine Leistung", diese Einstellung scheint
ein unvermeidlicher Bestandteil unserer Leistungsgesellschaft zu sein. Wir wollen
wissen, wie viele Versicherungen ein Vertreter verkauft hat, welchen Notendurchschnitt
ein Schüler erreicht, wie viele Siege ein Sportler aufzuweisen hat, wie
viel Geld einer auf dem Konto hat. Das sind doch die Kennzeichen eines erfolgreichen
Menschen. Aber irgendwie haben wir Charakter und Glaubwürdigkeit mit Äußerlichkeiten
durcheinander gebracht.
Natürlich sagen unsere Leistungen etwas über uns
aus, aber sie sind nie eine vollständige Antwort auf die Frage, wer wir sind.
Wenn ein Schüler eine Eins oder eine Sechs bekommt, heißt das doch
nicht, dass er eine Person erster oder sechster Klasse wäre. Aber genauso
werden Noten von Schülern, Eltern und oft auch Lehrern missverstanden. Nicht
ohne Grund stehen jedes Jahr am Tag der Zeugnisausgabe Psychologen bereit für
Schüler mit schlechten Noten.
Das Einkommen sagt überhaupt nichts
aus über den Wert eines Menschen, doch in unserer Gesellschaft lautet die
Botschaft nur allzu oft: "Hast du was, dann bist du was. Wertvoll bist du
nur dann, wenn du die Erfolgsleiter hinaufsteigst, wenn du Leistung bringst".
Deshalb stehen und fallen Selbstwertgefühl und Wohlbefinden vieler Menschen
mit dem Erfolg in der Schule, im Beruf, auf dem Sportplatz usw. Manche kommen
bis an die Schwelle des Selbstmords, wenn sie plötzlich nicht mehr die gewohnte
Leistung bringen können, wenn die gewohnte Anerkennung fehlt, sei es, weil
sie in Rente gegangen sind, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil sie
sich selbst zu hohe Ziele gesetzt haben oder weil ihr Körper plötzlich
streikt.
Dasselbe gilt auch für andere Teilbereiche unseres Lebens, die wir neben Leistung und Erfolg gerne zum Maßstab für unser Selbstwertgefühl machen. Da ist zum Beispiel der Jugend- und Schönheitswahn. Das deutsche Fotomodell Karin Feddersen stürzte sich mit 36 Jahren in München aus dem vierten Stock. Sie hatte Angst vor dem Alter. Schönheitschirurgen haben Hochkonjunktur. Wenn es möglich ist, mit 60 Jahren noch wie 30 auszusehen, dann muss man die Chance doch nutzen. Wer sein Selbstwertgefühl von seiner Ehe oder Familie abhängig macht, fällt in ein tiefes Loch, wenn beide auseinanderbrechen.
Wie soll ein Behinderter seinen Wert einschätzen, wo doch heute Spätabtreibungen
von behinderten Embryos gang und gäbe sind, wo es technisch möglich
ist, perfekte Designer-Babies in der Retorte zu schaffen.? Wird Behinderten
damit nicht schon wieder der Stempel "lebensunwert" aufgedrückt?
Die Antwort auf die Frage: "Was ist mein Leben wert?" darf sich nicht
auf einen Teilbereich meines Lebens beschränken, sie muss meine ganze Existenz
umfassen und kann nicht von mir selber kommen. Immer wenn Menschen aus sich
selbst heraus ihren Wert oder den der anderen festlegen, gibt es ein Zerrbild.
Die Antwort kann nur lauten:" Wechsle die Perspektive. Betrachte dich doch
einmal mit den Augen Gottes, der dich erschaffen hat, dem du wertvoll genug
bist, dass er seinen Sohn für dich gegeben hat."