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D-Day 2010

gesendet am 06.06.2010 von Dr. Hans Frisch
 

Alle reden vom Wetter - wir heute auch einmal. Nicht vom Wetter heute, oder morgen, oder in den nächsten Tagen - da können wir auf Radio und Fernsehen, auf Zeitungen oder aufs Internet verweisen. Bei der Frage nach "Wettervorhersage" bietet Google 280.000 Adressen. Oft frage ich mich, ob das Thema tatsächlich so wichtig ist - doch einmal war es entscheidend wichtig, sogar für die Weltgeschichte - zumindest für viele Tausende Menschenleben, heute vor 66 Jahren am 6.6.1944.

Vier Tage vorher hatten die ersten Schiffe der alliierten Invasionsarmee in England die Anker gelichtet - in den nächsten Tagen wurden es immer mehr, schließlich 1200. Sie fuhren Richtung Normandie, durch stürmisches Wetter, wie es seit 50 Jahren in dieser Jahreszeit nicht geherrscht hatte. Zwei englische und ein amerikanischer Wetterdienst erstellten aus den Beobachtungen ihrer Stationen, ihrer Schiffe und ihrer Flugzeuge Vorhersagen - deutlich verschiedene, denn sie hatten noch keine Riesenrechner zur Verfügung, wie die heutigen Wetterdienste. Die Admiralität musste aber über den Zeitpunkt des Angriffs entscheiden, ein Tag mit möglichst ruhigem Wetter, an dem die Ebbe in den frühen Morgenstunden eintritt für die Landung der Mannschaftsboote, wenig Wolken, damit die Luftunterstützung durch Bomber möglich ist.

Die Ebbe war zu berechnen, am 5. und 6. Juni würde sie besonders ausgeprägt sein (wegen Vollmond), dann wären die Unterwasserhindernisse am besten sichtbar. Aber das Wetter?
Kein Sturm, aber auch keine Windstille, wegen des Morgennebels, kein Regen, schon wegen der Wolkendecke, aber auch wegen des aufgeweichten Bodens. Schließlich wurde der 5. Juni vorgesehen - doch am Tag zuvor waren die Wettervorhersagen so ungünstig, dass Eisenhower den Termin auf den 6. verschob, für den Tag waren kurzfristig passende Bedingungen vorausgesagt.

Der niedrigste Luftdruck des Jahrhunderts über England hindert die polaren Kaltluftmassen am Abfließen, und so könnte sich der Ausläufer eines Azorenhochs sich bis an die Atlantikküste der Normandie vorwagen - und das tat es auch. Die Wetterfrösche haben eine Katastrophe verhindert. Selbst unter den günstigen Bedingungen am 6. Juni waren die Verluste gewaltig, über 10.000 amerikanische Soldaten starben an diesem Tag. Einen Tag früher wäre die Landung bei schlechtem Wetter wohl gescheitert mit weltgeschichtlichen Folgen: die Vorbereitung einer zweiten Invasion hätte lange dauert. In dieser Zeit hätte die Sowjetarmee wahrscheinlich ganz Deutschland besetzt - oder sie wäre geschlagen worden, und ein siegreiches Nazireich zur größten Katastrophe geworden.

So eng war das Zeitfenster, in dem die Invasion erfolgreich geschehen konnte, dass die deutsche Armee es übersah. Angesichts der Wetterbedingungen hatte sie mit einem Angriff überhaupt nicht gerechnet und Truppen, zusammen mit Generälen, zu Übungen im Inland verlegt. Feldmarschall Rommel war zum 50. Geburtstag seiner Frau in Deutschland. Keine Luftaufklärung hatte das Nahen der Invasionsflotte bemerkt. So gelang die Landung, und einen Tag später standen die alliierten Truppen schon hinter dem Atlantikwall. Die Invasion nahm ihren Verlauf - unter großen Opfern, aber erfolgreich.

Musik

Die Wetterdaten und die anderen Angaben habe ich natürlich aus dem Internet, da steht alles noch viel genauer. Beim Suchen öffnete ich ein Video in YouTube, und war erschüttert. Plötzlich schaute ich einem deutschen Soldaten über die Schulter, sah wie sein Maschinengewehr in die Scharen der landenden Amerikaner schoss und diese nieder mähte, wieder und wieder. Heinrich Sevaloh hieß er, ein Bauernsohn aus der Lüneburger Heide. Aus dem tapferen Jungen war ein treuer Soldat geworden, sein Oberleutnant war ihm ein väterlicher Freund. Standhaft verteidigte er jetzt seine Stellung, auch als er allein auf verlorenem Posten stand. Er tat seine Pflicht und er verteidigte sein Leben. Denn die Angreifer hatten ein Ziel - ihn und seine Kameraden zu töten und seine Armee zu besiegen.

Eines der amerikanischen Boote hielt genau auf den Abschnitt zu, den er verteidigte, David Silva war unter der Besatzung. Er stürmte ans Ufer, sah einen deutschen MG-Schützen, und wurde von drei Kugeln getroffen. Damit war der Einsatz für ihn beendet. Nach der Genesung im Lazarett wurde er katholischer Priester und Militärpfarrer. Eine kurze Geschichte. Für jeden einzelnen Soldaten bestand der ganze Krieg eigentlich aus solchen Geschichten. Mancher musste viele davon durchstehen, für viele war die erste schon tödlich.

Diese Geschichte ging weiter. Als die MG-Munition zu Ende war, da schoss Heinrich mit dem Karabiner, es war wie Scheibenschießen. Doch ein Schuss blieb ihm unauslöschlich im Gedächtnis:
Vor einer Betonmauer stand erschöpft ein amerikanischer Soldat. Heinrich zielte und traf ihn in die Stirn, der Helm fiel vom Kopf, die Augen schlossen sich und der Soldat stürzte tot zu Boden. Immer wieder, im Traum und Wachen, stand das Bild vor ihm, jahrelang.
Dann las er das Buch eines Amerikaners, der seinen 6. Juni dort in der Normandie beschrieb, auch den deutschen MG Schützen. "Das war ich" erkannte er und schrieb einen Brief, mit einer fraglichen Anschrift und der Bitte um eventuelle Nachsendung.

Zu 16 Adressen in Amerika ging der Brief und kam nach einem halben Jahr wieder zurück. Der Adressat war nicht zu ermitteln. Schließlich fand er ihn doch - als Militärpfarrer in einer Kaserne in Karlsruhe. Aus zwei Männern, die das Schicksal zu Todfeinden bestimmt hatte, wurden Freunde. Die Geschichte endet mit einer Begegnung dort an der Atlantikküste, der Stelle, die Heinrich verteidigte als David unter den Angreifern war. "Er hat nicht um Vergebung gebeten" berichtete der Priester - doch es bestand kein Zweifel, dass hier Vergebung geschehen ist.

Musik

Da sind wir jetzt über die Wettervorhersagen und den Filmbericht vom 6. Juni 1944 in ein moralisches Tiefdruckgebiet geraten. Ein junger Deutscher hat an einem Tag an die 3.000 amerikanische junge Männer erschossen und viele verwundet - und er bringt keine Bitte um Vergebung vor, als ihm einer begegnet, auf den er geschossen hatte. Fast wollen wir uns Verständnis dafür verbieten, doch wie sollte er ein Schuldbewusstsein haben? Er hatte keine böse Absicht, er hatte wohl kaum Hass, und er hatte keine Alternative - genauso wenig wie die Angreifer.

Sie waren in eine Situation gezwungen, die ihnen keine Wahl ließ. Um die Schuldigen an dieser Situation zu finden, da müsste man weit suchen und lange Zeit zurück. Nach der Schuld am Ersten Weltkrieg wäre zu fragen und nach der Schuld derer, die alle, auch die eigene Schuld, auf das deutsche Volk schoben. Auch nach den Schulden, die diesem Volk aufgeladen wurden mit dem Versailler Vertrag und es so unter Druck setzten, dass es verführbar wurde durch Verheißungen von Freiheit, Stärke, Würde und schließlich vom Sieg. Wie sollte ein Bauernjunge aus der Lüneburger Heide das durchschauen, und wie hätte er in der größten Bedrohung seinen Posten und seinen in Freundschaft verbundenen Offizier verlassen können?
Auf der anderen Seite waren Soldaten, die von ihren Führern in ein mörderisches Feuer geschickt wurden mit dem Auftrag, die deutschen Soldaten zu töten - auch sie ohne böse Absicht, und ohne persönlichen Hass.

Den beiden, die sich da begegneten, brauchte das keiner zu erklären. Als ich sah, wie sie dort an dem Strand aufeinander zugingen, sich umarmten, sich fest an den Händen fassten, sich ansahen und weinten, da kamen auch mir die Tränen, obwohl ich wusste, dass dieses Treffen für die Kamera arrangiert war.

Mir kam wieder ins Bewusstsein, was eine afrikanische Frau gesagt hatte nach einem Treffen mit einem Mann aus ihrem Dorf im Gefängnis. Er hatte ihre ganze Familie abgeschlachtet bei den grausamen Massakern. "Ob sie ihm vergeben könne" wurde sie gefragt - auch er hatte nicht darum gebeten, er konnte es wohl nicht. "Nein" war die Antwort. "Wir haben hier einen Ausdruck für Vergebung" sagte sie "miteinander weinen über das Geschehen".

Eine bessere Erklärung für Vergebung habe ich noch nicht gehört. Die beiden Männer da in der Normandie, die haben gemeinsam geweint, und Worte waren da nicht mehr nötig.
Wenn wir die Verstrickungen plötzlich sehen könnten, in denen wir leben und mitschuldig werden, wir würden erschrecken. Nur schwer könnten wir zu einem wirklichen Schuldgefühl kommen, und kaum hätten wir die Chance, denen zu begegnen, an denen wir mitschuldig wurden.

Vielleicht würde der Amerikaner als Priester antworten: "Weil das so ist, hat Gott, der unsere Erlösung und Freiheit will, seinen Sohn hingegeben für alle Schuld - für deine und für die deines Gegners, für bewusste und unbewusste - damit wir nicht mehr aus Angst und schlechtem Gewissen oder aus Feindschaft und Hass handeln müssen, sondern aus der Erkenntnis der erbarmenden Liebe, die uns und unser Gegenüber umgreift."

Die Schuld, die Heinrich Sevaloh all die Jahre bewusst geblieben war, das war der eine tödliche Schuss auf den einen erschöpften Soldaten - den konnte er nicht um Vergebung bitten. Der Priester hätte ihm Absolution zusprechen können, wenn er gebeichtet hätte. Manches hätte sich für ihn verändert.

Wenn wir sehen, wie nötig wir und die Welt das brauchen, was uns von Gott angeboten ist, ist es zum Weinen - und wenn wir erleben, wie uns vergeben wird und wir vergeben können, dann brauchen wir uns der Tränen nicht zu schämen.

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