Schulpflicht steht über religiösen
Bedenken
Verfassungsbeschwerde in Sachen Schulpflicht abgewiesen
06.08.2009: Eltern können ihre Kinder im Regelfall nicht wegen
religiöser Bedenken vom Sexualkundeunterricht oder schulischer
Karnevalsveranstaltungen befreien lassen. Das hat das Bundesverfassungsgericht
entschieden. (Beschluss vom 21. Juli 2009 1 BvR 1358/09 ).
Eltern waren zu einer Geldbuße verurteilt worden
Die Beschwerdeführer, Mitglieder einer baptistischen Glaubensgemeinschaft,
sind Eltern zweier Kinder, die eine Grundschule in Ostwestfalen
besuchen. An dieser Schule fanden im Februar 2007 ein Theaterprojekt,
das die Kinder für das Thema "sexueller Missbrauch"
durch Fremde oder auch Familienangehörige sensibilisieren sollte
und eine Karnevalsveranstaltung statt. Die Teilnahme an der Karnevalsveranstaltung
war insoweit frei als den Kindern stattdessen in der gesamten Unterrichtszeit
angeboten wurde, den Schwimmunterricht zu besuchen oder eine in
der Turnhalle aufgebaute Bewegungslandschaft zu nutzen. Die Kinder
der Beschwerdeführer kamen an den dafür vorgesehen Tagen
nicht in die Schule. Eine Befreiung für den Schulunterricht
lag nicht vor. Das Amtsgericht setzte deshalb wegen eines zweifachen
vorsätzlichen Verstoßes gegen die in § 41 Abs. 1
Satz 2 SchulG NRW statuierte Elternverantwortung für die Einhaltung
der Schulpflicht jeweils eine Gesamtgeldbuße von 80 Euro gegen
die Beschwerdeführer fest. Die Rechtsmittel dagegen waren erfolglos.
Eltern sahen sich in ihrer Religionsfreiheit und ihrem Erziehungsrecht
verletzt
Dagegen haben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben,
da sie sich in ihrer Religionsfreiheit und ihrem Erziehungsrecht
verletzt sehen. Sie sind der Ansicht, eine Pflicht zur Teilnahme
an einer Karnevalsveranstaltung verletze die religiöse Neutralität
der Schule, da Fastnacht ein Fest der katholischen Kirche sei. Es
werde heute so gefeiert, dass Katholiken sich vor der Fastenzeit
Ess- und Trinkgelagen hingäben, sich maskierten und meist völlig
enthemmt - befreit von jeglicher Moral - wie Narren benähmen.
Das Theaterprojekt erziehe die Kinder zu einer freien Sexualität.
Ihnen werde vermittelt, dass sie über ihre Sexualität
allein zu bestimmen hätten und ihr einziger
Ratgeber dabei, der sie niemals täusche, ihr Gefühl sei.
BFG: Grundrechtsverletzung als nicht hinreichend dargelegt an
Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat
die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil
die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung
nicht hinreichend dargelegt haben.
Staat muss aber Neutralität und Toleranz gegenüber
den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen
Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit unterliegt selbst keinem Gesetzesvorbehalt,
ist aber Einschränkungen zugänglich, die sich aus der
Verfassung selbst ergeben. Hierzu gehört der dem Staat in Art.
7 Abs. 1 GG erteilte Erziehungsauftrag. Infolge dessen erfährt
das elterliche
Erziehungsrecht durch die allgemeine Schulpflicht eine Beschränkung.
Im Einzelfall sind Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern
und dem Erziehungsauftrag des Staates im Wege einer Abwägung
nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen.
Zwar darf der Staat auch unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele
verfolgen, dabei muss er aber Neutralität und Toleranz gegenüber
den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen. Diese Verpflichtung
stellt bei strikter Beachtung sicher, dass unzumutbare Glaubens-
und
Gewissenskonflikte nicht entstehen und eine Indoktrination der Schüler
etwa auf dem Gebiet der Sexualerziehung unterbleibt.
Karneval ist kein katholisches Kirchenfest, sondern Brauchtum
Hinsichtlich der Präventionsveranstaltung hat das Amtsgericht
in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt,
dass die Schule mit der Sensibilisierung der Kinder für etwaigen
sexuellen Missbrauch und dem Aufzeigen von Möglichkeiten, sich
dem zu
entziehen, das ihr obliegende Neutralitätsgebot nicht verletzt
hat. Die auf der Glaubensüberzeugung der Beschwerdeführer
beruhenden elterlichen Vorstellungen von der Sexualerziehung ihrer
Kinder sind durch die Präventionsveranstaltung nicht in Frage
gestellt worden, weil diese die Kinder nicht dahin beeinflusst hat,
ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen.
Die Bewertung des Amtsgerichts, dass ein Verstoß gegen das
Neutralitätsgebot durch die Karnevalsveranstaltung nicht vorliegt,
begegnet keinen Bedenken, da diese nicht mit religiösen Handlungen
verbunden gewesen ist und die Kinder weder gezwungen waren, sich
zu verkleiden noch aktiv mitzufeiern. Karneval oder Fastnacht ist
kein katholisches Kirchenfest und heutzutage als bloßes Brauchtum
der früher etwa vorhandenen religiösen Bezüge weitgehend
entkleidet. Die Auffassung des Amtsgerichts, die Grundrechte der
Beschwerdeführer aus Art. 4 und 6 GG geböten nicht, ihren
Kindern eine Konfrontation mit dem Faschingstreiben der übrigen
Schüler zu ersparen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
Spannungen zwischen religiöser Überzeugung und einer
Tradition sind zumutbar
Denn die mit dem Schulbesuch verbundenen Spannungen zwischen der
religiösen Überzeugung einer Minderheit und einer damit
in Widerspruch stehenden Tradition einer anders geprägten Mehrheit
sind grundsätzlich zumutbar. Dies gilt umso mehr, als vorliegend
die Schule einen schonenden Ausgleich zwischen den Rechten der Eltern
und dem staatlichen Erziehungsauftrag auch dadurch gesucht hat,
dass sie mit einem Schwimmunterricht und der Bewegungslandschaft
in der Turnhalle zwei alternative Angebote zur Verfügung gestellt
hat.
Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 88/2009
vom 31. Juli 2009
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