gesendet am 14.10.2001 von Elsbeth Rosen |
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Während eines Vortrags zeigte der Redner den Zuhörern ein großes weißes DIN A 2 Blatt mit einem kleinen, aber gut sichtbaren schwarzen Punkt. "Was sehen Sie?" fragte er sein Publikum. Ohne lange zu überlegen antworteten die meisten: "Einen dunklen Punkt - " einen schmutzigen Fleck" - "ein kleines schwarzes Etwas." Keiner erwähnte das große weiße Blatt.
Genau das ist laut dem Psychotherapeuten Reinhold Ruthe die Lebenseinstellung eines depressiven Menschen. Er konzentriert sich auf die dunklen Punkte in seinem Leben. Er sieht die Dornen und nicht die Rosen, die Niederlagen und nicht die Erfolge, die Schwächen und nicht die Stärken. Er hat ein negatives Selbstbild, fühlt sich als Pechvogel, als Versager - als minderwertig, benachteiligt und unzulänglich. Von vorneherein sieht er sich als Verlierer und als Folge davon verliert er auch oft. Er versteht sich als Gedemütigter, und weil er sich so verhält, wird er auch gedemütigt. Er läuft sozusagen seinen eigenen Ohrfeigen nach, wie es der Psychoanalytiker Alfred Adler ausdrückt. Er bemitleidet sich und gleichzeitig kann er sich nicht ausstehen. Häufig richten sich seine Aggressionen gegen die eigene Person.
Zu diesem negativen Denken über sich selbst kommt ein negatives Weltbild und eine negative Zukunftsperspektive. In der Welt erlebt er nur Schlechtigkeit und Ablehnung. Keiner will ihn verstehen. Auch für die Zukunft hat er keine Hoffnung. Er erwartet keine Besserung seiner Situation, im Gegenteil: seine Probleme türmen sich zu einem immer größer werdenden Berg auf.
Was auch immer die Ursache dieser negativen Denkmuster ist, sie haben sich in den meisten Fällen über viele Jahre hinweg eingeschliffen und so verfestigt, daß es schließlich zu einer psychischen Erkrankung - der Depression - gekommen ist. Diese Form der Depression ist mit Medikamenten nicht zu heilen. Sie sind zwar nötig, um die Ängste zu dämpfen und die seelischen Schmerzen zu lindern, aber zusätzlich ist eine fachmännische Therapie notwendig, die dem Kranken hilft, seine falschen Ansichten über sich und die Welt zu erkennen und zu korrigieren.
Doch viele Depressive wollen es nicht wahrhaben, daß sie psychisch krank sind und nehmen deshalb keine Hilfe an. Wenn die Umstände sich ändern würden, ginge es ihnen wieder gut, meinen sie. Dabei sind es nicht die Umstände, die krank machen, sondern die Art, wie sie damit umgehen. Manchmal bedarf es wahrer Überredungskünste bis ein Depressiver sich bereit erklärt, Beratung und therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Der erste Schritt aus der Depression ist nach Aussage des erfahrenen Therapeuten Ruthe, daß der Kranke lernt, ein Stück Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Die ursprünglichen Erlebnisse und Erfahrungen, die seine negative Lebenseinstellung verursacht haben, liegen vielleicht weit zurück in der Vergangenheit und sind nicht mehr rückgängig zu machen, aber er ist verantwortlich dafür, wie er mit seinen Verletzungen und Erinnerungen umgeht.
Er kann vielleicht nichts für die Umstände, unter denen er gegenwärtig leben muß, aber er ist dafür verantwortlich, wie er mit seinen Problemen umgeht. Menschen, die sich selbst bemitleiden, die Schuld an ihrer Situation immer auf andere schieben und ihren Groll pflegen, werden nach Ruthes Erfahrung häufig depressiv.
Deshalb versucht er als Therapeut mit seinen Patienten an einer Korrektur dieser negativen Lebenseinstellung zu arbeiten, um die damit verbundenen lebensfeindlichen und zerstörerischen Verhaltensweisen zu verändern.
Elsbeth Rosen