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Fußball-EM-Nachlese gesendet am 6. Juli 2008 von Dr. Hans Frisch
 

Das Massenereignis WM und EM

„Die Fußballweltmeisterschaft ist vorbei. Alle Entscheidungen sind gefallen, alle Kommentare sind gesprochen oder geschrieben, die Zahl der schwarz-rot-goldenen Fahnen an den Autos nimmt ab, Klinsmann überlässt seine Mannschaft einem Nachfolger und die wahrscheinlich noch wichtigeren Themen kehren auf die Bildschirme zurück. Hätte die deutsche Mannschaft ihr Spiel so souverän und intelligent gemacht, wie der Netzer seine Kommentare - sie wären glatt Weltmeister geworden.“

- so hatten wir vor zwei Jahren unseren Beitrag zur WM begonnen - mit kleinen Änderungen, „EM“ statt „WM“, und Löw als Nachfolger von Klinsmann passt es auch heute (und wahrscheinlich auch bei weiteren Meisterschaften).

Als Zuschauer, der nicht im Stadion war, nicht einmal vor einer Großleinwand (beim Endspiel wenigstens in einem kleinen Biergarten), kann ich eigentlich nicht mitreden über die Massenbegeisterung bei solchen Ereignissen - Millionen Menschen halten im gleichen Moment die Luft an, reißen die Arme hoch vor Freude, oder stöhnen vor Enttäuschung. Ein Wir-Gefühl ergreift das Stadion und geht durch das Land, ja durch Europa, denn irgendwie haben ja alle zusammen gekämpft um den Titel.

Die Wirkung für die europäische Einigung und auch für die Integration ist kaum zu überschätzen, obwohl man sie nicht messen kann (dass auch die deutsche Mannschaft ausgeschieden ist, dürfte dabei für die Türken tröstlich sein, und die fantastische Leistung ihrer Mannschaft wird ja auch von den Deutschen bewundert).

Bei der WM hatte ich mich über den dritten Platz getröstet mit dem Gedanken „Doch, besser als der Ausgang war, hätte er nicht sein können - denn im Finale hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben: ein Sieg, und aus dem wunderbaren Freudentaumel im Halbfinale wäre ein Triumphgeschrei geworden - oder eine deprimierende Niederlage. So oder so, der warme Glanz des Spiels gegen Portugal wäre nicht als Abschluß geblieben, und die bravouröse Abschlußleistung von Oliver Kahns letztem Spiel bliebe nicht so in der Erinnerung.“

Doch über die deprimierende Niederlage bei der EM wurden die Spieler von dem begeisterten Empfang ihrer Mannschaft in Berlin wohl getröstet. Gerade als ich überlege, wie es weitergehen soll im Text, da hole ich die Zeitung (vom Freitag) und lese ganz oben auf der Titelseite, mit Bild: „Schüttler im Halbfinale“. Das Spielen geht also weiter. Die Tour de France ist gestartet; in einer Stunde geht es weiter mit der Deutschen Leichtathletikmeisterschaft im Nürnberger Stadion, als letzte Qualifikation für die olympischen Spiele; das Olympische Feuer kommt heute in der chinesischen Stadt Yangling an und genau nach einem Monat in Peking - dort ist Endspurt der Vorbereitung auf Olympia. Südafrika hat noch etwas Zeit bis zur WM - dazwischen noch diverse Meisterschaften und Rennen, Spiele und Kämpfe. Und bei allen: Massen in Spannung und Begeisterung; und immer auch das Gefühl: „Wir haben gewonnen“ oder „Wir haben verloren“.

Und, das Gefühl: „Ich war dabei“, kann man sich kaufen mit einem Ticket (wenn man noch eins bekommt), einer Anreise und meist mit einer oder mehreren Übernachtungen im Hotel. Die Masse der Zuschauer zeigt, wie wichtig dieses Gefühl, dieses Erlebnis, diese Erfahrung für Menschen ist. Auch in Peking werden viele deutsche Zuschauer dabei sein, und in Südafrika.

Auch die Umsatzzahlen zeigen das Gewicht solcher Ereignisse - allein die UEFA hat 1,3 Milliarden Euro eingenommen bei der EM, ähnlich hoch sind die Einnahmen beim Fernsehen, und sogar bei Adidas, durch den Verkauf von Trikots.

Mit welcher Ware wird da gehandelt? Was ist den Menschen so wichtig und wertvoll? Wo liegt der Ursprung solcher Spiele? Das sind Fragen, die natürlich erst nach dem Finale zu stellen sind - und nach der Musik wollen wir es versuchen.

* * * Musik * * *

Mit welcher Ware wird da gehandelt?

Womit wird das Geschäft gemacht bei der EM und ähnlichen Ereignissen?
Was ist den Menschen daran so wertvoll und wichtig?
Wo liegt der Ursprung solcher Spiele?
- Das waren die Fragen, die wir stellen wollen.

Sinnvoll ist wohl, zuerst nach dem Ursprung zu fragen. Vor der WM 2006 führten mexikanische Spieler das alte Pelota-Spiel in Deutschland vor. Ein Kautschuk-Ball wurde mit der Hüfte, dem Oberschenkel, dem Knie oder dem Ellenbogen gespielt. Als Tor ist an der seitlichen Wand des Spielfeldes ein Ring angebracht, 3 Meter hoch, da muss der Ball durch.

Die Kostüme erinnerten an Azteken-Kleidung, denn bei den Azteken Südamerikas ist das Spiel entstanden, wahrscheinlich schon vor 3000 Jahren. Es war ein heiliges Spiel - eine Legende behauptet sogar, der Sieger wurde dem Sonnengott geopfert - welche Ehre!

Bei diesem Ur-Fußball war das „Fußspiel“ ebenso verboten wie das „Handspiel“.

Ähnlich alt sind die Olympischen Spiele, doch ist davon mehr bekannt, weil Griechisch verstanden wird, Aztekisch aber noch kaum zu übersetzen ist. Auch das waren mythische Spiele. Sie wiederholten den Wettkampf von Göttern bei Olympia - Zeus im Ringkampf mit seinem Vater Kronos, Apollon im Faustkampf. Dem Sieger winkte als Lohn ein Kranz vom Olivenbaum - und reichlich Ehre und Anerkennung.

Mircea Eliade, ein Religionsforscher, hat die Bedeutung solcher mythischen Spiele beschrieben. Die Mythen, die z.B. zur Wintersonnenwende oder zum Frühlingsbeginn, zur Tag und Nachtgleiche im März, gehörten, wurden im heiligen Spiel „vergegenwärtigt“, und damit war „hier und jetzt“, „hic et nunc“ – „heilige Zeit“! Und der Strom der dahinfließenden Zeit wurde „festgemacht“ im heiligen Fest.

Ähnlich beschreibt er die menschliche Strukturierung des Raumes: durch Stiftung einer „heiligen Mitte“ - ein Stamm, ein Stein, ein Altar oder später ein Tempel (wie z. B. in Olympia) - wurde der Raum gegliedert, zu dieser Mitte hin, und von dieser Mitte ausgehend. Nun gilt als heilig nur, was von allen als heilig anerkannt wird - wer das Heilige nicht anerkennt, der gehört nicht dazu; wer es verletzt, der wird ausgeschlossen, oft getötet, denn er hat ein Tabu verletzt.

Wenn du testen willst, ob davon noch etwas lebendig ist, dann verbrenne eine Club-Fahne in der Masse der Club-Fans - berufe dich aber nachher nicht darauf, ich hätte es empfohlen. Und wenn du nach der „heiligen Mitte“ fragst - besser als durch die Fernsehkamera über dem Mittelpunkt des Stadions beim Anpfiff, ist die ja kaum darzustellen.

„Ich bin dabei - hier und jetzt“, das spüren alle im Stadion beim entscheidenden Elfmeter, oder in Wimbledon beim entscheidenden Aufschlag, oder beim 100 m Lauf der Olympiade. Und damit ist eigentlich schon beantwortet, was dabei den Menschen so wertvoll und so wichtig ist.

Das Spiel nachher in einer Aufzeichnung noch mal ansehen - das hat von diesem Moment nichts mehr.

Ich behaupte, der Mensch sucht und bekommt die Erfahrung, die Menschen früher beim mythischen Fest erlebten, eine Berührung des Heiligen, „hier und jetzt“. Und ich behaupte, das ist die Ware, mit der das Geschäft gemacht wird bei der EM und ähnlichen Ereignissen.

Den Wert einer Ware kann man am Preis erkennen, der dafür bezahlt wird - und die „Heiligkeit“ einer Sache an der Menschenmasse, die sie zusammenbringt und innerlich bewegt.

Für die Vereinigung von Massen, für das Entstehen von Beziehungen zwischen Gruppen, für die Strukturierung der dahinfließenden Zeit und auch für die Strukturierung des globalen Raumes (wenn zum Beispiel Peking und Südafrika in den Blickpunkt der Welt treten) sind solche Ereignisse heute das, was die heiligen Feste früher waren. Dass da Missbrauch, auch furchtbarer Missbrauch, möglich ist, braucht in Nürnberg, wo das Stadion zum Reichsparteitagsgelände gehörte, nicht betont zu werden.

Offen bleibt die Frage nach dem Einzelnen in diesen Massen, und jede Masse besteht doch aus Einzelnen. Da wird es schwieriger, wir wollen trotzdem nachher noch hinschauen.

* * * Musik * * *

Die „Heiligkeit“ solcher Spiele

Wahrscheinlich haben Fußballfans verstanden, was ich mit „Heiligkeit“ solcher Spiele meine. Sie stehen dazu, dass es eine Qualität, ein Phänomen, eine Wirklichkeit ist, die Gemeinschaft stiftet und nur in der Gemeinschaft erlebt wird.

Mancher wird aber nervös werden bei diesem Verständnis von Heiligkeit, weil für ihn Gott heilig ist und diese Heiligkeit ihn ganz persönlich fordert - als Maßstab, als Verpflichtung, als Gegenüber. Das Aufgehen in der Masse, die sich begeistern lässt durch die priesterlich agierenden Stellvertreter, ist ihm suspekt.

Dieser Konflikt ist alt - er tauchte schon auf, als in Jerusalem eine römische Arena gebaut wurde in der König Herodes alle fünf Jahre Wettkämpfe zu Ehren des göttlichen römischen Kaisers abhalten ließ. Viele Juden sahen das als Götzendienst an, denn wirkliche Ehre gebührt nur dem einen heiligen Gott. Das Stadion blieb ein Ärgernis, auch nach Herodes Tod, auch wenn dort nicht im entferntesten so etwas ablief wie im Kolosseum von Rom.

Spüren wir das Dilemma? Menschliche Gemeinschaft braucht eine heilige Mitte - und was Menschen heilig ist, das stiftet Gemeinschaft.

Wer in Beziehung zu dem einen heiligen Gott lebt, der kann nichts Heiliges neben ihm oder statt seiner akzeptieren.

Wir haben erkannt, wie dringend die Menschen - eigentlich die Menschheit - etwas heiliges braucht, doch ist diese Heiligkeit flüchtig und muss immer wieder neu angeboten werden. Sie kann den Einzelnen trösten, für einen Moment aufrichten und kurzfristig Hoffnungen wecken - in der Tiefe lässt sie ihn allein und verändert ihn nicht.

Wenn eine Beziehung zu dem einen heiligen Gott möglich wäre, dann müsste daraus eine bleibende Veränderung in der Tiefe geschehen, eine Veränderung der Maßstäbe, des Selbstbildes, des Lebenssinns. Nicht durch stellvertretende siegreiche Höchstleistung, auch nicht durch erfolgreiche eigene Anstrengung ist diese Beziehung zu erreichen - sie könnte nur geschenkt werden, als heiliges Geschenk, aus Liebe. So verstehe ich, so verstehen sehr viele das Angebot des Evangeliums von Jesus Christus. Das schließt die Freude an sportlichem Wettkampf und auch die Freude am Sieg der eigenen Mannschaft nicht aus, doch erleichtert es die Mitfreude am Sieg des sportlich besseren Gegners.

Wer sich geliebt weiß vom heiligen Gott, der dürfte weniger angewiesen sein auf Anerkennung und Ruhm, der braucht eigentlich nicht neidisch oder eifersüchtig sein auf den größeren Erfolg der anderen, der müsste einiges nicht nötig haben was Menschen brauchen, die sich nicht so geliebt wissen. Und stolz sein kann er nicht, denn er kann sich nicht berufen auf seine Leistung, sondern auf das stellvertretende Eintreten von Jesus für ihn.

Die Dankbarkeit dafür ist ähnlich der Dankbarkeit der Fans an ihre erfolgreiche Mannschaft (und das Erreichen des Finale ist ja ein riesiger Erfolg!), doch geht diese Dankbarkeit an Gott mit ins tägliche Leben und ist bleibend.

Und heute Nachmittag werde ich die Leichtathletikmeisterschaft verfolgen, im August Olympia und wohl auch 2010 die WM in Südafrika.