Polen - Ukrainegesendet am 10. Juni 2012 von Dr. Hans Frisch |
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Alle reden vom Fußball - wir nicht, wenigstens diesmal. Am 1. Juli sind wir wieder auf Sendung, das ist der Tag des Endspiels. Falls unsere Mannschaft dabei ist, werden wir an dem Thema wohl nicht vorbeikommen. Heute Abend spielen in Danzig Italien und Spanien, beides wohl Favoriten für das Finale. Auch Deutschland dürfte Chancen haben. Doch, wir wollen nicht vom Fußball reden! Polen und Ukraine, das wäre eine spannende Geschichte, viel zu groß für eine Sendung. Erlaubt mir, etwas kleiner einzusteigen, gewissermaßen privat, denn heute ist mein Geburtstag, und mit Polen, genauer mit der Danziger Gegend im Norden von Polen und mit einer deutschen Siedlung im Süden der Ukraine hat dieser Tag etwas zu tun. In Elbing, nah bei Danzig wurde mein Vater geboren (es war damals Westpreußen). Seine Vorfahren waren schon bald nach der Reformation dorthin ausgewandert aus Friesland, denn sie gehörten zu den verfolgten Mennoniten. Die wurden gebraucht, weil durch Kriege und durch Seuchen das Land entvölkert war. Die Weichselniederung versumpfte wegen der beschädigten und verkommenen Deiche und Gräben - und sumpfiges Land urbar machen, das war eine niederländische und friesische Spezialität. Der Anfang war sehr schwer, viele erlagen den Strapazen. Als alles gerichtet war und bewirtschaftet wurde, da wurde es eng für die wachsende Zahl von Mennonitenfamilien. Doch dann suchte Katharina die Große Siedler für die weiten Grassteppen in der Südukraine - und wieder machten sich Mennonitentrecks auf den Weg, unter ihnen die Vorfahren meiner Mutter. Als Spezialist für Schafzucht ging mein Großvater mit seiner Familie schließlich auch in die Ukraine, so kamen mein Vater und meine Mutter zusammen. Von Kiew, dem Ort des Finale am 1. Juli, ist mein Geburtsort recht weit entfernt - doch wie weit, das habe ich erst erkannt, als wir zu Gorbatschows Zeit die Strecke mit dem Pkw gefahren sind. Es ist in dem Dorf nur noch eine deutsche Frau. Von dem Glanz der Mennonitenzeit ist nichts mehr sichtbar. Unter Stalin wurden die Großbauern beseitigt - ins Gulag oder ins Grab - viele gingen ins Ausland - Kanada, USA und Südamerika - bis Stalin die Ausreise stoppte. Doch mein Vater hatte noch die deutsche Staatsangehörigkeit aus Westpreußen, und über das deutsche Konsulat in Odessa bekam er die Möglichkeit, nach Deutschland zu ziehen, heim ins Reich hieß das damals. So wuchs ich auf in Sachsen-Anhalt, an der Grenze zu Thüringen (Kenner werden es an der Sprache schon erkannt haben). Als Kind habe ich die Hitlerzeit erlebt, unpolitisch und unkritisch, eigentlich unwissend, vom Krieg fast unberührt. Beim Einmarsch der Amerikaner in unser Dorf fielen nur einige Schüsse, ein einzelner Soldat meinte wohl er könnte den Feind aufhalten. Die Übergabe des Gebietes an die Russen verlief reibungslos - so waren wir wieder in Stalins Machtbereich und meine Jugendzeit kam unter sozialistischen Einfluss, genauer unter marxistisch-leninistischen, der uns aber kaum berührte, denn wir kannten die Wahrheit - unsere Eltern hatten uns einiges erzählt aus Stalins Reich. Musik Danke für eure Geduld, es ist wie ein Geburtstagsgeschenk für mich. Jetzt habe ich drauflos erzählt, wie soll daraus ein Radiobeitrag werden? Versuchen wir es. AREF, das heißt Arbeitsgemeinschaft Rundfunk evangelischer Freikirchen - und die älteste evangelische Freikirche sind die Mennoniten. Freikirche, das meinte (und meint), frei von einer Bindung an die staatliche Macht. Das war einerseits attraktiv für bewusst entschiedene Christen, andererseits eine Herausforderung für die großen Kirchen, die zum Teil sogar Staatskirchen waren. Anfangs war deren Reaktion blutige Verfolgung. Die Flucht nach Amerika war eine Möglichkeit zu überleben, aber auch die Flucht nach Westpreußen und Ostpreußen, wo Siedler gebraucht wurden. So kam es dazu, dass in Amerika die Freikirchen überwiegen und so kam es dazu, dass schließlich meine mennonitischen Vorfahren über Westpreußen in die Ukraine kamen und dort meine Biografie begann - 400 km südlich von Kiew. Geboren wurde ich in das Sowjetreich, das angetreten war, der Menschheit das Heil zu bringen. Massenmord, Massenenteignungen,
Massenverhaftungen wurden als notwendig für den Übergang in
eine sozialistische und später kommunistische gute Gesellschaft bezeichnet.
Diese gute Gesellschaft ließ auf sich warten, Unterdrückung,
Verhaftungen und Mord gingen weiter. 1937 wurden vier Brüder meiner
Mutter nachts abgeholt und im Nachbardorf erschossen, weil sie eine Postkarte
aus Deutschland erhalten hatten, was sie zu Spionen machte. Von den Gulags
haben wir viel gehört, die Hungersnot in der Ukraine mit vielen Millionen
Opfern von 1929 1933 ist kaum bekannt. Meine Mutter hat davon erzählt. 1960 haben wir uns dem System durch Republikflucht entzogen - nicht wegen Bedrohung oder Verfolgung, sondern weil unsere Kinder nicht unter der kommunistischen Doktrin aufwachsen sollten - und wir wussten, dass die Grenzen bald dicht gemacht werden, weil es nicht anders geht. So war ich - geboren unter Stalin, zur Schule gegangen unter Hitler, Abitur und Studium unter Ulbricht - nun als Assistenzarzt unter Adenauer. Die Heilsversprechungen der sozialistischen Revolution und das Unheil des real existierenden Sozialismus sind endgültig zusammengebrochen - das erwartete Heil der freien Marktwirtschaft lässt immer noch auf sich warten - es scheint sich eher zu entfernen. Unruhe macht sich breit und es entsteht der Eindruck, Events wie Rock im Park, wie Fußball-EM, wie Olympiade und Ähnliches sind willkommene Ablenkung - Heil bringen können sie sicher nicht. Was sie aber nicht weniger spannend macht. Musik Die frühen Mennoniten flohen vor der religiösen Verfolgung, meine Vorfahren wanderten aus in die Ukraine wegen wirtschaftlicher Not, meine Eltern flohen mit uns vor Stalin, wir flohen mit unseren Kindern vor Ulbricht - das klingt viel unruhiger als es war, denn dazwischen lagen lange Zeit ganz normalen Lebens - nur war erworbener Besitz jedes Mal verloren. Den wichtigsten Besitz behielten unserer Vorfahren und auch wir unverändert - die Beziehung zu Gott durch Jesus Christus. Weder die Heilsversprechen des Sozialismus noch die massive Propaganda der Nazis, auch nicht die Verlockungen der freien Marktwirtschaft konnten und können damit konkurrieren. Durch zwei Jahrtausende ist die Frohe Botschaft, das Evangelium von der Liebe Gottes, lebendig geblieben, auch durch dunkle Zeiten - selbst in den Kirchen. Der Anteil des Glaubens am Ende der sozialistischen Herrschaft in Polen, und damit am Beginn der Wende, ist sicher bedeutend. Wir haben einen katholischen Gottesdienst in Schlesien miterlebt - an einen ganzen normalen Sonntag. Die riesige Kirche war überfüllt, draußen knieten auf dem Vorplatz Menschen und beteten - da war die Frühmesse schon gewesen, und für den nächsten Gottesdienst kamen nicht wenige.
Bei unserem Besuch im Rowno in der Ukraine waren wir in der Baptistengemeinde. Die Kapelle mit tausend Plätzen war voll und in der Stadt gab es fünf solche Kapellen von verschiedenen Freikirchen. Niemand kann ermessen, welcher Reichtum durch gläubige Menschen in der Welt ist. Jesus hat zu seinen Jüngern gesagt: Ihr seid das Licht der Welt, das Salz der Erde. Leider haben viele Christen ihr Licht gedimmt und scheinen eher salzarm zu leben. Stellt doch das Licht des Evangeliums nicht unter den Scheffel! Es ist zu schön und zu schade dazu und wird in dieser Welt voller Irrlichter so dringend gebraucht. Nun ja, ein richtiger Radiobeitrag ist es nicht geworden, nehmt es als Geburtstagsgeschichte eines alten Mannes, der bei Polen und Ukraine erinnert wurde an seiner Herkunft und seine Biografie, auch an seine Wurzeln - und seid froh, dass er nicht ins Erzählen geraten ist - denn da gibt es viele Geschichten. Wie die von meiner Mutter während der Hungersnot. Unsere Familie brauchte nicht zu hungern, mein Vater war so etwas wie Transportunternehmer. Mit zwei Pferden macht er Fuhren über weite Strecken, sogar bis nach Sibirien. Da brachte er immer etwas mit nach Hause. Im Dorf war ein Waisenhaus - die Kinder lebten vom Betteln. Für die Kinder kochte die Mutter einen großen Waschkessel Suppe - sicher nicht nur einmal. Später in Deutschland hatten wir Ziegen, schlachteten immer wieder ein Schwein, hielten Kaninchen und Hühner. Nach dem Krieg kamen die Städter aufs Land um Lebensmittel einzutauschen für Hausrat, Tischdecken, Teppiche oder Ähnliches. Alle bekamen von unserer Mutter etwas mit - geschenkt! Ließ jemand doch aus Dankbarkeit etwas da, dann wurde mein Vater böse wenn er abends nachhause kam. Wahrscheinlich erinnerte er sich an die Zeit in der Ukraine. Die Bauernhöfe der Nachbarschaft waren verschlossen, durchs Fenster wurde erst das Angebot geprüft. Genug! Dr. Hans Frisch
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