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Der Stratosphärensprung

gesendet am 21. Oktober 2012 von Dr. Hans Frisch
21.10.2012: Felix Baumgartner aus 39.000 Meter Höhe im freien Fall  

„Erntedankfest“ sagte Anita spontan, als ich sie vor zehn Tagen fragte: „Welches Thema könnte für die nächste Sendung passen?“ Das fand ich gut, auch wenn wir das schon vor einigen Jahren einmal hatten. Doch am vorigen Sonntag rief unsere Tochter an: „In Servus TV wird gleich der Absprung von Baumgartner gezeigt“ - da habe ich zugeschaut, und nun meine ich: „Erntedank ist jedes Jahr - so etwas kommt nicht so bald wieder.“ Wahrscheinlich waren die meisten dabei, am Fernsehen oder im Internet - sonst ist es bei YouTube noch zu finden.

21.10.2012: Felix Baumgartner aus 39.000 Meter Höhe im freien Fall
21.10.2012: Felix Baumgartner aus 39.000 Meter Höhe im freien Fall
Foto: (c) Luke Aikins, Red Bull Content Pool

Der Sprung

Sieben Jahre Vorbereitung, dann zwei vergebliche Starttermine, schließlich beim Aufstieg Schwierigkeiten mit der Visierheizung am Helm - damit die Scheibe nicht beschlägt - und der Gedanke an Abbruch - endlich: 39 km über der Erde öffnet sich die Tür an der Kapsel, er steht auf der Absprungstufe, deutlich sichtbar ist die Rundung der Erde, tief, sehr tief unten ihre Oberfläche, wir hören seine Atmung und seinen Gruß, „Jetzt komme ich zurück zu dir, du kleine Erde!“ - dann lässt er sich fallen und wird kleiner und kleiner für die Kamera. Wär es schief gegangen, der Satz wäre eingegangen in „Letzte Worte großer Männer“.

50 Millonen Euro für drei Rekorde

Der höchste bemannte Ballonflug, der höchste Absprung mit Fallschirm, der längste freie Fall - über 36 km (allerdings in kürzerer Zeit als der Rekord 1960, denn er war schneller - schneller als der Schall - als erster Mensch in freiem Fall). 50 Millionen Euro soll das gekostet haben - es dürfte der teuerste Rekord eines Einzelnen sein. Doch daran beteiligt sind viele, sehr viele - es kommt darauf an, wo man die Grenze zieht.

Eigentlich begann die Geschichte schon 1827

Als frühestes tauchen zwei Chemiker auf, die 1827 aus der Galle von Stieren einen Stoff isolierten, der den Namen „Taurin“ bekam, von „Tauros“, der Stier. Zunächst waren Forscher damit beschäftigt. Sie fanden, dass Taurin in Nerven und im Muskelstoffwechsel wirkt und den Herzrhythmus stabilisiert.

Die Zahl der Beteiligten wuchs als nach dem Krieg japanische Jagdflieger Taurin bekamen, wahrscheinlich auch schon zusammen mit Koffein, zur Leistungssteigerung. Daraus wurde in Thailand ein Energiedrink, „roter Gaur“, „roter Bison“, und das Warenzeichen: zwei rote Bisons im Kampf.

Es war ein gutes Geschäft, doch richtig groß wurde es, als ein Österreicher den Drink kennen lernte - er hatte seinen Jetlag nach dem langen Flug prompt beseitigt. Er kaufte sich in die Firma ein - und gemeinsam stieg Red Bull in 25 Jahren zur Höhe auf, die Coca-Cola erst nach 120 Jahren erreicht hatte.

Es war vor allem eine Werbeagentur aus Frankfurt, die der österreichischen Firma Flügel verlieh mit dem Spruch und den Comics: „Red Bull verleiht Flügel“. Unterstützt wurde die Werbung durch diverse Verbote des Drinks in verschiedenen Ländern, „Was verboten wird muss doch eine starke Wirkung haben“, auch durch den nicht aufgepeppten echten Geschmack, „Eine starke Medizin darf bitter sein“, und sicher auch durch den stolzen Preis, „Was billig daher kommt, kann nicht viel taugen“.

Die Verbote sind gefallen, der Absatz ist gestiegen, auf 45 Milliarden Dosen pro Jahr, das heißt: täglich greifen 120 Millionen Menschen zu Red Bull, und unterstützen damit Aktionen wie den Stratosphärensprung. Auch den Sieg von Vettel in Südkorea am gleichen Tag haben sie mit ermöglicht. Wenn das keine Werbung ist! Kosten spielen da wohl keine Rolle. Bei Herstellungskosten von 20 Cent und einem Verkaufspreis von zwei Euro bleiben pro Tag 22 Millionen.

Wie kommen wir nun von Red Bull wieder weg? Mal sehen, erst mal Musik.

Musik

Szenenwechsel

Szenenwechsel: 1960, Krankenhaus Friedrichshain in Ostberlin, neurologische Abteilung. Ich bin Stationsarzt. Viele Patienten und Patientinnen sind da zur Schlaftherapie. Durch sehr lange Schlafdauer sollen Symptome einer nervösen Erschöpfung geheilt werden (angeblich eine Methode nach Pawlow). Nicht wenige waren Parteifunktionäre, die versucht hatten, nach einem Fehler durch besonderen Einsatz wieder rehabilitiert zu werden, und sich dabei übernommen hatten.

Wie zu erwarten, kamen bei der Morgenvisite immer wieder die Klagen: „Ich konnte kaum schlafen“ - nach einer Woche Bettruhe verständlich. Meist halfen die milden Schlafmittel auch nicht. Dann sagte ich oft: „Schwester Karin, spritzen Sie doch heute mal eine Ampulle Phykosal!“ - dann war der Schlaf in der Nacht gesichert.

Kenner haben gemerkt: „Phykosal“ bedeutet „physiologische Kochsalzlösung“, ein Mittel zum Auflösen von Medikamenten, garantiert ohne jeden Effekt. „Placebowirkung“ nennt man das - und kein Medikament wird zugelassen, bei dem die Placebowirkung höher ist als die Wirkung des Wirkstoffs.

Getestet wird so: Von zwei Patientenkollektiven bekommt eines ein Scheinmedikament, das andere das mit Wirkstoff - und bei keinem der Tests bleibt die Placebowirkung des Scheinmittels aus.
Um das Ergebnis nicht durch unbewusste Einwirkung des Arztes zu beeinflussen, gibt es den Blindversuch - der Arzt weiß nicht, ob er Placebo oder Medikament gibt. Noch sicherer ist der Doppelblindversuch - der Arzt weiß nicht, dass er an einem solchen Versuch teilnimmt.

Zurück nach Berlin: Nach einiger Zeit ging ich in die Poliklinik, eine Kollegin übernahm die Station. Bei der Einarbeitung hatte sie den die „Phykosal“-Spritzen kennen gelernt. Eines Tages rief der Krankenhausapotheker an: „Können Sie mir helfen? Ihre Kollegin hat ein Medikament angefordert, das ich nicht kenne, „Phykosal“. Da musste ich lachen. Wir hatten unbewusst einen doppelten Blindversuch mit physiologischer Kochsalzlösung durchgeführt, und sicher war die Wirkung bei der Kollegin noch besser als bei mir, denn sie war überzeugt, ein starkes Schlafmittel zu verordnen.

Die Auswirkungen der unbewussten Einflüsse auf unser Befinden und unsere Reaktionen sind wohl stärker als wir meinen. Diese Tatsache macht sich die indirekte Werbung zu Nutze - nicht nur bei Red Bull -, bewusst oder unbewusst, aber effektiv.

Weder Baumgartner noch Vettel trinken oder zeigen bei ihren Auftritten den Drink - aber die beiden Bullen sind immer wieder sichtbar. Wohl deshalb ist die unbewusste Verknüpfung der glücklichen Triumphe bei dem Sprung, bei dem Formel-1 Rennen und bei verschiedenen Extremsportarten mit dem Produkt besonders stark.

Höher, tiefer und schneller als bei dem Stratosphärensprung geht nicht. Ich glaube, der Werbeeffekt wird an den Verkaufszahlen sichtbar werden. Ob die Wirkung des Drinks wirklich nur der von einer Tasse Kaffee entspricht und alles andere Placebo ist - wie viele Forscher vermuten - das spielt da überhaupt keine Rolle, denn es geht ums Feeling, und auch da wird ja auf Kosten kaum geschaut - und damit kommen wir in Bereiche, in denen das vernünftige Denken den Boden unter den Füßen verliert.

Nach der Musik wollen wir uns trotzdem dahin wagen.

Musik

50 Millionen

Man könnte ja fantasieren, was für ein Nutzen aus dem absoluten Rekordsprung entsteht oder aus dem Gewinnen eines Formel-1 Rennens.

50 Millionen investiert in ein landwirtschaftliches Bewässerungsprogramm oder in ein medizinisches Hilfsprogramm - Das wäre was. Dazu müsste aber einen Tag lang jeder Red Bull-Trinker für jeden Drink nochmal zwei Euro hinlegen - wie gesagt, das ist Fantasie.

Doch auf zehn Tage verteilt wären es 20 Cent pro Drink - und vernünftig betrachtet müsste ja durch so eine Beteiligung an guten Taten das gute Feeling noch wesentlich gesteigert sein (wenn nicht zusätzlicher Alkohol, die laute Musik und manche andere Einflüsse in der Disco zu sehr abstumpfen).

Die Mitteilung: „Alle zehn Tage spendet Red Bull 50 Millionen Euro für dieses Projekt oder für jenes Projekt“ wäre wohl auch werbewirksam - doch auch das ist Fantasie.

Jeder Durst will gestillt werden

Im Ernst bleibt die Frage: Sollen wir uns den Aufwand für ein gutes Gefühl durch diesen und jenen Genuss wirklich leisten? Haben wir das wirklich nötig? Wo eine Nachfrage ist entsteht ein Markt - wer da etwas ändern will, müsste die Nachfrage beeinflussen - und damit kommen wir in ein extrem schwieriges Feld.

Jeder Hunger verlangt Nahrung, jeder Durst will gestillt sein, auch der Reizhunger und der Durst nach Anerkennung. Ein Erlöschen dieser beiden Bedürfnisse würde schon einige Wirtschaftszweige ruinieren (und das Leben langweilig machen). Solche Bedürfnisse gibt es noch einige.

Was könnte uns so ergreifen, erschüttern, verändern, dass unsere Bedürfnisse sich verändern, vernünftig werden, und dass wir ihnen weniger ausgeliefert sind?

Echte Begeisterung lässt den Reizhunger vergehen, eine tiefe Liebe löscht den Durst nach Anerkennung.

Der Glückliche

Und da wird der Sprung des Felix Baumgartner zum treffenden Bild:

Felix – „der Glückliche“ bedeutet der Name - springt aus unvorstellbarer Höhe, und hat Glück. Er kommt auf der Erde an, wird bejubelt, glücklich begrüßt, sicher auch reich belohnt. Dem roten Symbol der starken Bullen hat er einen intensiven Glanz verliehen - das Geschäft kann weiter boomen.

Jesus - der Name sagt „Gott rettet“ - ist auf der Erde angekommen und sollte gleich getötet werden. Die Flucht nach Ägypten rettete ihn.

Fast unbemerkt wächst er auf, doch zu einer unvorstellbaren Höhe. „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ sagt Gott zu ihm bei der Taufe - da ist der 30. Und dann lässt er sich fallen, in die gesellschaftliche, die religiöse, die politische Wirklichkeit seines Volkes. Zunächst kommt Beifall auf, denn er heilt, ermutigt, tröstet. Doch bald wird es kritisch, ja bedrohlich. Und mit zunehmender Geschwindigkeiten naht der Zusammenstoß:

„Bist du der Sohn Gottes“ fragt ihn der Hohepriester vor dem heiligen Gericht der Judenheit. „ANI HU“, „ich bin ER!“ ist die Antwort - und zugleich das Todesurteil. Er hatte keinen Fallschirm, und falls er doch da gewesen wäre, er hat ihn nicht geöffnet.

Seine letzten Worte waren: „Vater vergib ihnen.“ und „Es ist vollbracht.“

„Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben. Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ so sprechen wir im Glaubensbekenntnis, und bezeugen: „Er hat eine Grenze durchstoßen, die unüberwindbar schien“.

„Am dritten Tage auferstanden von den Toten“ bekennen wir weiter - denn viele, sehr viele Menschen haben erfahren: Er lebt.

Zuerst die Jünger, danach viele, die mit ihrem Tod den Glauben bezeugt haben. Was für eine Erfahrung muss das gewesen sein, die ihnen diesen Todesmut gab - und danach durch zwei Jahrtausende, bis auf uns, bis zu mir. Es gibt Symbole, die versprechen die Illusion von Mut, von Kraft, von Sieg - wie die beiden roten Bullen.

Das stärkste Symbol für Mut, Kraft und Sieg ist das Kreuz. Es bezeugt und bietet bedingungslose Liebe und höchste Anerkennung jedem, der wahrhaftig danach verlangt.
Es bringt uns keine Gefahr, verlangt von uns keinen Mut, fordert kaum Opfer, diesen Glauben zu bezeugen. Doch es ist wichtig, und wir tun es!