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Gesundheit - höchstes Gut?

Arzt und Theologe Manfred Lütz: Fitness ist zu einer Ersatzreligion geworden

04.04.: Gesund und fit zu bleiben, ist nach Ansicht des Kölner Arztes und Theologen Manfred Lütz in unserer Gesellschaft zu einer Ersatzreligion geworden. Der 54-jährige Psychiater und Psychotherapeut schrieb mehrere Besteller, darunter die Bücher «Gott. Eine kleine Geschichte des Größten» und «Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult». Aus Anlass der kirchlichen «Woche für das Leben», die am 5. April 2008 beginnt, sprach Dirk Baas vom Evangelischen Pressedient (epd) mit Manfredt Lütz. Die Leute, die vorbeugend Leben, verpassen das Leben mehr

Interview mit Arzt und Theologe Manfred Lütz

Herr Lütz, Sie waren noch nie in einem Fitnessstudio. Treiben Sie überhaupt Sport?

Lütz: Ich habe kein spezielles Gesunderhaltungsprogramm, ich lebe.

Überhaupt kein Interesse an der Bewegung?

Lütz: Doch, ich bin ja kein Ideologe. Ich habe Tischtennis gespielt, bin auch schon Ski gefahren, habe Fahrradtouren gemacht. Aber es gibt ja inzwischen Leute, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Wenn man sich nur noch auf Gesundheit fixiert und sich mit bierernster Miene in Fitnessstudios zu Höchstleistungen treibt, dann ist das für mich Realsatire. Die Leute verpassen das Leben.

Zu viel Sport ist ein Verlust an Lebensqualität?

Lütz: Ja, die derzeitige Entwicklung sprengt jedes Maß. Aber es gibt natürlich auch eine bestimmte Industrie, die daran interessiert ist, dass es maßlos wird.

Für viele Menschen ist Gesundheit das höchste Gut. Für Sie nicht?

Lütz: Ein so zerbrechliches Gut wie die Gesundheit war in der gesamten philosophischen Tradition noch nie das höchste Gut. Wer weiß denn überhaupt, ob er gesund ist? Wenn mir jemand sagt, er sei ganz sicher gesund, dann traue ich mir als Arzt zu, ihn durch ein paar gezielte Fragen erheblich nachdenklicher zu machen. Zum Beispiel mit der Frage: Wann war Ihre letzte Darmspiegelung?

Gesundheit als höchstes Gut zu propagieren, ist eine Anleitung zum Unglücklichsein. Daher gibt es auch seit mindestens 20 Jahren bei uns keine wirkliche Gesundheitspolitik. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut kann man gar nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun, es wenigstens behaupten.

Krankenkassen werben mit Bonusprogrammen um besonders Gesundheitsbewusste. Sind das falsche Anreize?

Lütz: Es gibt keine seriöse Studien, die belegen, dass gesundheitsbewusstes Verhalten zu weniger Kosten für die Solidargemeinschaft führt. Durch Bonus-Malus-Systeme werden erwachsene Bürger pädagogisiert. Doch die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist auch die Freiheit zum ungesunden Leben.

Sie sagen, Gesundheit sei längst zur Ersatzreligion geworden.
Welche Risiken und Nebenwirkungen hat der Gesundheitswahn?

Lütz: Gesundheit ist eine wichtige Rahmenbedingung des Lebens. Aber sie taugt nicht als Lebensinhalt. Wenn Menschen versuchen, sich mit religiöser Inbrunst das ewige Leben durch die Verrichtung guter Gesundheits-Werke oder durch Unterlassung böser Gesundheitslaster zu verdienen, gehen sie in die Irre. Und wenn sie am Ende auf dem Sterbebett liegen und es passiert nun unvermeidlich das, was sie mit all ihren Bemühungen immer vermeiden wollten, wird sich nicht dann manch einer fragen: Hätte ich nicht etwas mehr Zeit für Gespräche mit meiner Frau oder mit meinen Kindern haben sollen, statt dauernd im Fitnessstudio rumzuhängen? Und: Hätte ich nicht auch mal ein bisschen was für andere Menschen tun sollen?

Die Gesundheitsreligion ist völlig egoistisch. Die Hochreligionen, Judentum, Islam und Christentum hatten immer auch einen sozialen Aspekt. Der Gesundheitsgläubige interessiert sich nur für seine Laborwerte, seine Prognose und seine Zukunft.

Vor allem aber: Wenn der gesunde Mensch der eigentliche Mensch ist, dann ist der kranke Mensch, vor allem der unheilbar kranke, der chronisch kranke oder der behinderte Mensch ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. Die Gesundheitsreligion hat inzwischen ihren eigenen Fundamentalismus entwickelt. Das ist die Ethik des Heilens. Die Ethik des Heilens ist das Ende der Ethik. Die Ethik war einmal der argumentative kontroverse philosophische Diskurs über Moral. Doch wenn heute irgendjemand «Ethik des Heilens» sagt, dann ist Ende der Debatte, dann wird es sakral.

Mit welchen Konsequenzen?

Lütz: Wer heilt, hat recht. Die Gesundheitsreligion hat inzwischen unser Menschenbild zutiefst verwandelt. Wir haben längst nicht mehr das Menschenbild von Artikel 1 Grundgesetz, wonach jeder Mensch die gleiche Würde besitzt. Fragen Sie mal Leute in einer Fußgängerzone, ob man für Menschen, die nicht mehr gesund werden können, genauso viel Geld ausgeben soll, wie für Menschen, die noch gesund werden können. Sie werden verfassungswidrige Antworten bekommen.

Sie fordern die Entlastung der Medizin von allen Heilserwartungen. Aber Medizin muss doch heilen ...

Lütz: Nein, bei der Medizin geht es nicht um Heil. Sondern es geht um Heilung. Das ist etwas anderes. Eine Krankheit wird geheilt. Aber dann hat man längst nicht das Heil gefunden.

In Ihrer Themenreflexion zur «Woche für das Leben» schreiben Sie, Ziel sei es nicht,
am Ende eines gesundheitsbewussten und verzichtreichen Lebensmarathons möglichst gesund zu sterben.
Wie sollte das Lebensziel stattdessen lauten?

Lütz: Wir Christen haben als Lebensziel, ein gottgefälliges Leben zu führen. Das heißt, uns auch um das Wohlergehen anderer Menschen zu kümmern. Man kann mit wenig Euros in armen Ländern ein Leben retten. Stattdessen lässt man sich bei uns für viel Geld die Haut stramm ziehen.

Quelle: jesus.de-newsletter vom 03.04.2008 / epd