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Du hattest die Wahl

gesendet am 29. September 2013 von Dr. Hans Frisch
 

Du hattest die Wahl – vor einer Woche – und die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl anders ausging, als du wolltest, die ist fifty/fifty – denn wie es sich in einer guten Demokratie gehört, ist das Kräfteverhältnis von Wahlsieger und Wahlverlierer ausgewogen. In die Diskussion, wie es nun weitergehen sollte, wollen (und können) wir uns nicht irgendwie wirksam einmischen – da wäre unsere Stimme noch weniger als ein Tropfen auf 2.000 l Wasser, also bedeutungslos.

Gegen diesen Eindruck, besser gegen diese Erkenntnis, hat Eva Strittmatter, eine Dichterin in der DDR angedichtet, oder angeglaubt mit einem Gedicht. Glauben nennt Sie es:

Aus Ermangelung eines besseren Glaubens, glaube ich an mich.
Es ist wichtig dass du da bist, und, es geht nicht ohne dich.
Und doch habe ich in Skopje gesehen, nach dem großen Beben,
wie dort, als wären all die Tode nicht geschehen, die Lebenden weiterleben.
Und jeder war wichtig der da verging,
und es ging vorher ohne keinen von ihnen.
Gesprengt ist der Ring, Schatten auf den Steinen.
Wir haben aber keine andere Wahl, als an uns selber festzuhalten.
Mit uns beginnt die Milliarden Zahl, und wir müssen sie gestalten.

Eva Strittmatter

Gott sei Dank, wir brauchen nicht gegen diese Milliardenzahl „anzuglauben“ – wir leben in überschaubaren Gruppen und Beziehungen, wo wir schon Gewicht und Bedeutung haben, auch wenn wir nicht in der Politik mitmischen oder öffentlich in Erscheinung treten.

Einen grandiosen Versuch, dieser Enge zu entkommen, hat Rilke unternommen mit einem Gedicht:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang,
und ich weiß noch nicht, bin ich ein Falke, ein Sturm,
oder ein großer Gesang?
Rainer Maria Rilke

Uns kann er bei solchen Flügen nicht begegnen, wir sind in der Mitte unseres Lebens mehr oder weniger festgemacht und ein Atom in der schier unendlichen Masse der Atome, mit Verbindung und Wechselwirkung zu mehr oder weniger Nachbaratomen.
Dieses Bild könnte uns den Blick öffnen - nicht zu dem fast trotzigen den Glauben der Eva Strittmatter und nicht zu dem stürmischen Kreisen von Rilke, sondern den Blick auf die Dynamik und die Beziehungen im Kleinen – in der Welt der Atome und Moleküle, und wir könnten vielleicht eine Ahnung bekommen von der wirklichen Bedeutung des Einzelnen.

Musik

Die Liebesgeschichte der Atome

Was wir als trockene Chemie kennen, ist in Wirklichkeit höchst spannend

Die meisten von uns haben bei „Atom“ das Bild vor sich: ein Atomkern wird umkreist von Elektronen – und genauer wollen wir nicht hinschauen, denn dann verschwimmt das Bild zu Elektronenwolken und in imaginäre Quantenbereiche, die man nur noch mathematisch erfassen kann.

Also, ein Kern wird umkreist von Elektronen, und die können nur auf bestimmten Bahnen sich bewegen, Schalen genannt, weil es ja Kugelformen sind. Im Kern sind die positiven Protonen – und deren Zahl bestimmt, um was für ein Atom es sich handelt. Ein Proton - Wasserstoff; zwei Protonen - Helium; drei - Lithium usw., die ganze Reihe der Elemente durch bis zum Uran mit 92 Protonen. Zu jedem positiven Proton gehört ein negatives Elektron. Beim Wasserstoff also eins, beim Helium zwei, Lithium hat drei Protonen, also auch drei Elektronen. Weil auf die erste Schale, die L-Schale, nur zwei Elektronen passen, muss das dritte Atom beim Lithium auf eine neue Bahn, auf die M-Schale. Auf dieser haben acht Elektronen Platz. Also beim jeweils nächsten Element immer ein Proton und ein Elektron mehr. Beim Neon sind es 8 in der Außenschale, auch beim Argon. beim Krypton und beim Xenon. Was so langweilig klingt, ist die Grundlage der Chemie – und damit des Lebens!

Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon sind Elemente, bei denen die äußerste Elektronenschale komplett besetzt ist, es sind Edelgase, und die Reihe geht so weiter bis zum Radon mit 86 Protonen. Edelgase heißen sie, weil sie wie echte Adelige unter sich bleiben, sie verbinden sich mit keinem anderen Element, sie fühlen sich gewissermaßen vollkommen.

Der Überfluss des einen füllt den Mangel des anderen

Oben: Die Hochzeit zwischen zwei Atomen - Das Natrium-Atom (Na) gibt ein Elektron (blau) an das Chlor-Atom (Cl) ab.
Unten: Beide Atome ziehen sich nun an, denn das Natrium-Atom ist nun positiv geladen, das Chlor-Atom negativ.

Elemente, denen ein Elektron, oder auch zwei, zur Vollkommenheit fehlt , weil nur sieben oder sechs auf der Außenschale sind, oder solche, die ein Elektron zu viel haben, auf der nächsthöheren Schale, schauen wie neidisch auf die Edelgaskonfiguration. Doch Erfüllung der Sehnsucht ist möglich: Wenn das Atom mit der störenden Lücke einem anderen mit einem Elektron zu viel begegnet - dann vereinen sie sich - so wie der arme Künstler die reiche Erbin heiratet. Der Überfluss des einen füllt den Mangel des anderen - so kann der Künstler sich elegant in der Gesellschaft bewegen, und die Erbin hat Zutritt zu gebildeten Kreisen und bekommt Anteil an gehobener Kultur.

Die brennende Liebe zwischen Chlor und Natrium

Chlor kennen wir alle - es ist ein grünes Gas und riecht scharf stechend. Fast als ob es das überzählige Elektron vorwurfsvoll vorzeigt. Natrium riecht nach nichts, es ist ein weiches Metalle, ihm fehlt außen ein Elektron zur Edelgaskonfiguration. Begegnen sie sich, dann gibt es kein Halten: Stürzt sich das Chloratom auf das Natrium oder reißt das Natrium das Chlor an sich? Es ist eine brennende Liebe. Wenn ihr den Versuch macht, passt auf: Das Reagenzglas zerreißt es bei der feurigen Hochzeit. Danach ist Natrium und Chlor nicht mehr zu sehen - ein weißlicher Belag ist entstanden - Na CL, Kochsalz. Weil da kein Halten ist, kommen Natrium und Chlor in der Natur nur verbunden vor - alles Salz in den Ozeanen ist so entstanden, auch das Salz der gewaltigen Salzlager. Gut, dass dieses Chlor nicht mehr in der Atmosphäre ist!

Und wie finden sich Wasserstoff und Sauerstoff?

Mit Wasserstoff und Sauerstoff passiert ähnliches – sie brauchen dazu aber einen Zündfunken - doch dann knallt es, leider auch, wenn der Wasserstoff aus einer defekten Gasleitung stammt und das Haus gefüllt hat. Da reicht der Funke im Lichtschalter und die Knallgasexplosion zerreißt das Haus. - Aus den beiden Gasen ist Wasser geworden, H2O - und so ist alles Wasser der Ozeane, der Gletscher, der Bäche und Flüsse einmal entstanden. Nicht in einer einzelnen Explosion, aber auf gleiche Weise.

Die Sehnsucht nach Vollkommenheit schafft Beziehungen

Zum Glück sind nicht alle Begegnung in der Chemie so stürmisch - doch alle haben sie mit diesem Liebesprinzip zu tun: Die Sehnsucht nach Vollkommenheit schafft Beziehungen - aus Atomen entstehen Moleküle, aus Molekülen schließlich Leben, und im Leben endlich Geist

Musik

Ein bisschen Chemie muss noch sein (es ist ein unerschöpfliches Thema!). Da hatte aller freie Wasserstoff seinen Sauerstoff gefunden und sich mit ihm Knall und Fall vereint zu Wassermolekülen - H2O. Natrium und Chlor waren voll feuriger Liebe zu Kochsalz geworden, NA CL und salzten die Ozeane.

Es blieb jedoch viel Sauerstoff übrig

Aber es war viel Sauerstoff übrig geblieben - wo der Kohlenstoff vorfand, vereinten sie sich zu CO2. Das reichlich vorhandene Eisen verrostete mit Sauerstoff (der rote Burgsandstein hat davon seine Farbe) und noch immer rostet Eisen vor sich hin. Seine Liebe zum Sauerstoff ist nicht so heiß wie die von Kohlenstoff, sonst würden Brücken, Maschinen und auch der Eiffelturm verbrennen, denn Sauerstoff ist immer noch reichlich im Überschuss vorhanden in der Atmosphäre. - Die einsamen Sauerstoffatome arrangieren sich irgendwie zu O2-Molekülen.

Natrium und Chlor haben es gut - der Mangel des einen ist durch den Überschuss des andern ausgeglichen. zwar hat jetzt Chlor ein Elektron mehr als ihm zusteht nach der positiven Kernladung, es ist also negativ geladen - ein Ion, und Natrium ist ein positives Ion, weil es ein Elektron abgegeben hat, doch, zufrieden mit der Edelgaskonfiguration ihrer äußersten Schale, bewegen sie sich im Wasser - jedes für sich, aber zusammengehörend durch ihr Elektron, wie durch einen Ehering.

Bereit für das Leben

Damit ist die Bühne bereitet für den Auftritt des Lebens. – Auf unglaublich raffinierte Weise spannt der Kohlenstoff dem Wasser ein Wasserstoffatom aus und verbindet sich mit ihm zu Kohlenwasserstoff, den Grundbaustein der Lebewesen - dazu muss er sich aber zuvor aus der Ehe mit dem Sauerstoff, aus dem CO2, gelöst haben.

Das Magnesium hilft ihm dabei - es sitzt im Chlorophyll und verlockt den Sauerstoff loszulassen. Der verlässt die Blätter und steht in der Atmosphäre wieder bereit zu neuen Verbindungen. Der Treibstoff für diese Prozesse ist die Lichtenergie der Sonne, die ständig und ständig in das System Erdoberfläche strömt.

Zum Glück können wir die unendliche Vielfalt der Prozesse nicht sehen und zum Glück haben wir uns an das, was wir sehen, gewöhnt - sonst kämen wir aus dem Staunen nicht heraus, erst recht nicht, wenn wir das Wunder sehen könnten, dass da Wesen sind, die das erkennen und darüber staunen können - wir selbst!.

Musik

Nun sind wir doch in der Chemie hängen geblieben, aber immerhin bei uns selbst angekommen. Gestartet waren wir bei dem Empfinden des einzelnen Selbst, als Atom unter einer Milliarden Zahl von anderen Selbst. Vielleicht hilft uns der Ausflug in die Chemie, eine Ahnung zu bekommen, wie die Milliardenzahl mit uns beginnen kann.

Kaum einer von allen ist wirklich komplett - wie ein Edelgas - er wäre auch zu nichts nutze. Jeder hat eine Lücke, einen Mangel an sich oder einen Überschuss den er irgendwie anbringen möchte. Ich meine nicht den Markt der Waren mit Nachfrage und Angebot, sondern das Geflecht der Beziehungen, die sie aus der Begegnung von Mangel und Überschuss entwickeln - manchmal so heiß wie bei Natrium und Chlor oder so plötzlich wie die Knallgasexplosion von Wasserstoff und Sauerstoff - "falling in love" genannt und oft besungen!

Weniger dramatisch aber nicht weniger wunderbar ist die stetige lebendige Entwicklung der Beziehungen, die Familien, Gruppen, Gemeinschaften, Parteien, Nationen wachsen lässt - ein gut Teil der Energie, die dabei verbraucht wird stammt aus dem Sonnenlicht, das durch Lebensprozesse Jahrmillionen gespeichert wurde in fossilen Kohlenwasserstoffen.

In der Verbrennung findet der damals freigesetzte Sauerstoff wieder zu dem Kohlenstoff zurück, die von der Pflanze aufgenommene Energie wird freigesetzt - und CO2 entlassen - inzwischen ist es schon bedrohlich viel.

Damit kämen wir eigentlich zur Energiewende - doch das Ziel ist ein anderes. So wie jedes Atom Sehnsucht nach Edelgaskonfiguration, nach Vollkommenheit hat, so auch jeder Mensch. So wie die Sehnsucht der Atome nur befriedigt wird in der Beziehung - so auch bei jedem Menschen.

In der Natur und in der Menschheit entsteht aus dem Spiel dieser Beziehungen Leben. Der menschliche Mangel ist durch äußere Mittel allenfalls zu überdecken - gestillt werden kann er nur in lebendigen Beziehungen. Und damit sind wir wieder bei dem größten Thema - der Liebe.

Das sollte eigentlich das Thema jeder Sendung in einem christlichen Programm sein - doch die Liebesgeschichte der Atome hat uns etwas lange aufgehalten.
Dass diese so menschlich ist, das hat mich schon zum Staunen gebracht.

Dr. Hans Frisch