zur AREF-Startseite

Das Leben vor dem Mauerbau und die Flucht

gesendet am 16.11.2014 von Dr. Hans Frisch
Brandenburger Tor in Berlin vor dem Mauerbau 

 

Zwei Sonntage vor dem ersten Advent, mitten im trüben Monat November ist Volkstrauertag. Eigentlich könnten wir den Beitrag vom vergangenen Jahr einfach wiederholen - allerdings müsste die Zahl der Opfer von Krieg Terror und Gewalt weiter nach oben korrigiert werden. Wir sind aber frei, ein anderes Thema zu wählen.

Am Mittwoch hat die Weltraumsonde Rosetta Stone ihren Kometen erreicht und ist tatsächlich gelandet. Wir hatten sie im Februar schon auf dem Weg begleitet - doch das ist etwas weit weg von uns. Am vorigen Sonntag hat unser Land dankbar bedacht und in Berlin gefeiert: 25 Jahre Mauerfall. (Solange ist das schon her!) Dazu ist eigentlich alles schon gesagt und geschrieben, auch auf fast allen Kanälen gezeigt. Erlaubt mir bitte etwas Privates zu erzählen aus der Zeit ein Jahr vor der Mauer.

Das Leben vor dem Mauerbau

Brandenburger Tor in Berlin vor dem Mauerbau
Brandenburger Tor in Berlin vor dem Mauerbau
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-85417-0003

Eigentlich müsste es mit einer Liebesgeschichte beginnen, die anfing im Präpariersaal der Anatomie - doch das würde zu lang. Das war 1953, im Jahr, als Stalin starb und im Jahr des 17. Juni. Ich erlebte mit, wie die russischen Panzer über den Alex rollten Richtung Brandenburger Tor. 1955 heirateten wir und bekamen eine billige Wohnung westlich von West Berlin in Staaken. Wir mussten also täglich durch ganz Westberlin mit der S-Bahn fahren bis zur Friedrichstraße, denn wir studierten in der Charité.

In den Pausen gingen wir oft über die Brücke beim Reichstag in den Tiergarten - der Zugang zu Westberlin war völlig unbehindert und unkontrolliert. Nach späten Spaziergängen konnte ich nachts einfach durchs Brandenburger Tor (rechts im Bild) gehen.

Doch die Stadtgrenze von ganz Berlin - auch im Osten - konnte nur mit Vorzeigen des Personalausweises passiert werden. Hatten wir den morgens vergessen, konnten wir nicht in den S-Bahnhof und mussten ihn erst holen. Man gewöhnt sich daran. Wir beide studierten mit einem Stipendium, das reichte gut zum Leben. Als unsere Kinder geboren wurden und die Omi zu uns zog, da musste ich dazu verdienen - in der Sprechstunde meines späteren Chefs mithelfen und Literatur raus suchen, oft im Amerika-Haus am Bahnhof Zoo. Nach dem Staatsexamen dann durch Praxisvertretungen - auch in West Berlin.

Es ging uns gut, in Berlin ließ es sich gut leben. Wir wussten, dass die Stasi fast alles von uns wusste, auch unsere politische und religiöse Orientierung kannte – doch wir hatten keine Angst. Niemand in unserer Verwandtschaft und niemand in unserem Freundeskreis war verfolgt oder verhaftet worden. Einige von den zahlreichen Republikflüchtlingen kannten wir, manchen habe ich auch bei der Flucht geholfen - Das war relativ leicht damals. Bei den meisten waren wirtschaftliche oder familiäre Gründe Anlass zur Flucht.

Wer erst einmal in Berlin war, konnte ohne weiteres nach Westberlin fahren oder gehen - und das wurden immer mehr, meist junge, beruflich qualifizierte Menschen. Wir hatten eigentlich keinen Grund zu gehen. 1960 tauchte das Gerücht auf, in der DDR wird die Ganztagsschule eingeführt - da hatten wir schon drei Kinder, und die hätten wir nicht gern in eine solche Schule geschickt mit durchgehender „Rotlichtbestrahlung“.

Wir hätten abwarten können - doch es war uns völlig klar, dass die DDR ihre Grenzen dicht machen muss, wenn sie überleben will - und zwar bald. Über 15 000 Flüchtlinge jeden Monat, das war zu viel, und Moskau hätte sicher nie zugelassen, dass ein Satellitenstaat (und ein Aufmarschgebiet im Westen) wegbricht. Als Ausweg blieb nur die rechtzeitige Republikflucht. Wir haben uns gewundert, dass es noch ein ganzes Jahr gedauert hat, bis die Mauer kam.

Musik

Man könnte meinen, für jemand der täglich durch West Berlin durchfährt, in Westberlin ins Kino und ins Theater geht, auch manchmal einkauft, wenn er Westgeld hat, für den ist die Flucht überhaupt kein Problem. So dachten wir auch - bis wir die Stasi kennen lernten. Wir hatten den Termin für einen Sonntag im Urlaub geplant.

Republikflucht

Als ich am Freitagabend nachhause kam, sagte meine Frau: wir werden beobachtet. Erst meinte ich, sie sieht Gespenster - doch dann sah ich den Mann, den sie beschrieben hatte in unserer Straße stehen, da war kein Zweifel möglich. Wir wussten, die Stasi hat Ärzte und Apotheker, die fliehen wollten, möglichst beim Einsteigen in den Zug verhaftet. Und wir wussten, uns erwarten fünf Jahre Zuchthaus - in Bautzen, denn Republikflucht galt nach den Strafgesetzen als Verbrechen. Die Kinder würden in Heime kommen.

Als wir am Sonntagmorgen zum Bahnhof kamen, merkten wir, dass etwas anders ist als gewöhnlich. Wir wurden offensichtlich erwartet - doch auf dem falschen Bahnsteig. Die Stasi rechnete fest damit, dass wir in den Zug Richtung Spandau steigen - dass wir am Sonntag in Richtung Falkensee fahren, um in den Gottesdienst zu gehen, darauf konnten sie nicht kommen. Durch das Fenster des Zuges auf dem Gleis nach Westberlin sahen wir einen Stasimann und einen Grenzbeamten, die nach uns Ausschau hielten. Als sie uns sahen, lief der Beamte Richtung Telefon, um die Wache in Falkensee zu alarmieren - doch wir kamen unbehelligt durch die Sperre, waren also in der DDR und mussten jetzt ins Stadtgebiet kommen. Das wurde eine spannende Angelegenheit, denn sicher war eine Ringfahndung an allen Bahnhöfen und an allen Straßenkontrollen ausgelöst worden.
Der Fahndungsaufruf hatte den Kontrolleur in der Straßenbahn, in der wir von der Ostseite in die Stadt fuhren wohl nicht erreicht, denn ein Blick auf unsere Personalausweise genügte ihm. So kamen wir in die Stadt - und mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo in Westberlin.

Nun gehörten wir zu den vielen Republikflüchtigen, die der eigentliche Grund für den Bau der Mauer wurden. Die Ganztagsschule wurde in der DDR nicht eingeführt, keiner unserer Freunde bekam Schwierigkeiten durch unsere Flucht, als wir später Verwandte und Freunde im Osten besuchen konnten, mussten wir uns immer bei der Volkspolizei anmelden und abmelden - nie war die Rede von unserer Flucht - nicht freundlich, aber völlig korrekt wurden wir behandelt, wie alle anderen.

Die meisten Freunde schimpften etwas über ihren Staat, in der Hauptsache wegen der schlechten Wirtschaftslage und der fehlenden Reisefreiheit. Eine gute Freundin war in der SED eingetreten - ihr Vater war Nazi gewesen, und als sie nach dem Krieg erkannte, was die Nazis angerichtet haben, wollte sie mit verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht. Es wurden lange Gespräche - ihr Glaube an den Segen und den Sieg des Sozialismus starb aber schon einige Zeit vor der Wende. Sie war eine der ersten, die ihr Parteibuch zurückgaben.

Die Tochter der Freundin war in der DDR aufgewachsen und erinnert sich gern an die Ferienlager der Jungen Pioniere, an die Aktivitäten in der FDJ und vor allem an die staatlichen Hilfen für Familien – besonders für Mütter. Mit vier Kindern konnte sie ohne größere Schwierigkeiten ein Studium abschließen. Sie hat uns vor ein paar Tagen besucht, und wir hatten interessante Gespräche zu unserem Thema.

Musik

Warum haben dann so viele versucht, aus diesem Staat abzuhauen - selbst unter Lebensgefahr?

Das klang jetzt alles nach „DDR-light“ – und viele Menschen haben dort so gelebt. Warum haben dann so viele versucht, aus diesem Staat abzuhauen - selbst unter Lebensgefahr?

Zwei Ereignisse hat uns die Tochter der Freundin erzählt, die es verständlich machen können. Sie hatte Verwandte in Westdeutschland besuchen dürfen. Bei der Rückfahrt kam der Zug durch Bahnhof Zoo und fuhr weiter bis Friedrichstraße. Noch die bunten Lichter von Bahnhof Zoo im Auge sah sie beim Überfahren der Grenze plötzlich, wie dunkel und grau Ostberlin ist. Ausgestiegen musste sie durch die Kontrollbaracke am Bahnhof Friedrichstraße – den „Tränenpalast“. Wir haben einige Male die bedrückende Atmosphäre darin erlebt.

Als sie schließlich fertig war, mit ihrem Koffer die schwere Türe am Ausgang geöffnet hatte und draußen stand - da schlug die Tür hinter ihr zu mit einem Knall, wie die Tür eines Gefängnisses hinter dem Gefangenen - plötzlich fühlte sie sich wie eine Gefangene. – Und das Gefühl blieb!

Es hatte sich nichts geändert, und doch war alles anders. Sie sah die Ärmlichkeit und die Enge, sie spürte die Unfreiheit und die Diktatur und verstand plötzlich die, welche da raus wollten. Uns war es ähnlich gegangen, aber umgekehrt. Wenn wir für zwei Wochen zu Besuch in der alten Heimat waren und die Gemeinschaft mit Freunden und Verwandten erlebten, meinten wir: „Hier könnten wir doch leben.“ Bei der Rückfahrt dann immer das gleiche Erlebnis nach dem Überqueren der Grenze – „Der Grauschleier ist weg!“ Und die Vorstellung, drüben zu bleiben, wurde etwas zum Albtraum.

Ein zweites Ereignis erzählte Virvit: „Eine gute Freundin hatte Jura studiert und war Richterin geworden. Da wurde einem jungen Mann der Prozess gemacht. Er hatte sich betrunken an der Mauer aufgehalten. Als zwei Polizisten ihn fragten, was er da wolle, antwortete er im Rausch: „Abhauen natürlich.“ Sie nahmen ihn fest – und nun sollte er verurteilt werden. Doch die Freundin machte das üble Spiel nicht mit und sprach ihn frei. Sie verlor ihr Richteramt und bekam Berufsverbot.“ Beim Erzählen geriet unsere Freundin wieder richtig in Wut.

Solche und ähnlich bedrückende Erlebnisse hatten wohl viele. – Die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechterten sich zunehmend, das Volk war von den Informationen aus dem Westen nicht abzuschotten, die Sowjetunion zerfiel in einzelne souveräne Staaten, Gorbatschow brachte Glasnost und Perestroika und machte schließlich den Betonköpfen im Politbüro der SED klar: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Und zunehmend artikulierte sich der Unwille und der Drang nach Freiheit (auch der Wunsch nach der D-Mark) immer lauter – bis das Wunder geschah.

Einen wichtigen Anteil daran, dass es friedlich ging, hatten wohl die Friedensgebete, auch wenn danach nirgends etwas von Dankgebeten zu hören war - außer vielleicht ein „Gott sei Dank“ hier und da. Verständlich, denn alle brachen auf Richtung Westen.

Nach 25 Jahren leben (und zusammenwachsen) in Einheit - gewissermaßen zur „silbernen Freiheit“ – würde sich die Nikolaikirche in Leipzig und manche andere Kirche sicher freuen, wenn sie sich füllen würde mit einer großen Menge zum Dankgebet – die könnte dann gleich zusammenbleiben zum Friedensgebet für unsere unruhige Welt.

Dr. Hans Frisch, 16.11.2014