Auch die
Auswirkungen von Gewalt darstellen
Professor warnt vor Zensur
in den Medien
Professor Dieter Lenzen
warnt vor der Zensur von Gewaltdarstellungen
in den Medien: Wenn nicht nur die Darstellung von Gewalt für den
Computerspieler immer realistischer würde, sondern auch die der Opfer,
dann wäre mehr getan als mit Verboten.
Dieter Lenzen ist Professor
am Institut für Allgemeine Pädagogik und Erster Vizepräsident
der FU Berlin und arbeittet an einer Studie über die Wirkungen von
Gewaltdarstellungen in den Medien auf ihre Rezipienten, die nach Erfurt
eine besondere Bedeutung bekommt.
Aus einem Interview von Dieter Wulf
An Untersuchungen über
Gewalt in den Medien und ihren Einfluss auf das Publikum mangelt
es nicht, Prof. Lenzer vermutet, dass es weltweit über 100.000
Studien zur Wirkung von Gewalt in den Medien gibt. "Das fing ja schon
mit den Stummfilmen in den 20er-Jahren an. Bei Schlägereien mit Stan
und Olli vermuteten viele damals auch, dass die Zuschauer das dann einfach
nachahmen würden."
Trotz soviel Forschung wissen
wir bis heute nur sehr wenig. Es gäbe unter den Wissenschaftlern
im Wesentlichen drei Theorien.
- Imitationshypothese:
Der Betrachter eines Films imitiert bestimmte Handlungen
- Katharsishypothese:
Der Betrachter eines Films seht sich die Brutalität an, um sie
dann selber nicht mehr begehen zu müssen.
- Frequenzhypothese: Die
Häufigkeit der Betrachtung hat beim Zuschauer Folgen.
Ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema
nach dem Motto Gewaltdarstellung führt zu Gewalt lsse
sich schlichtweg nicht nachweisen. Unsere Untersuchungsmethoden waren
viel zu ungenau. Ein Film löst eben nicht bei jedem die gleichen
oder ähnliche Reaktionen aus, sondern der Film entsteht immer erst
im Auge des Betrachters. Das weiß die Literaturwissenschaft
schon seit vielen Jahren. Dort geht man auch davon aus, dass der Leser
der Erfinder des Textes ist und nicht der Autor. Und genauso ist es auch
im Film. Es genügt also nicht, sich einzelne Filme anzusehen, sondern
genauso muss man den Betrachter und sein Umfeld untersuchen.
Was bedeutet das für
die derzeitige Praxis des Jugendschutzes und der Freiwilligen Selbstkontrolle
bei Film und Fernsehen ?
"Was wir brauchen, ist nicht weniger Brutalität in den Medien,
sondern eine realistischere Darstellung von Sterben und Leid. Es
kann nun wirklich nicht darum gehen, Gewalt aus den Medien zu verbannen.
Das wäre ja auch absurd, denn die Realität bietet Krieg und
Mord ja millionenfach. Diese Realität vom Bildschirm zu verbannen,
bringt gar nichts. "Was wir brauchen, sind Filme, die auch die
Folgen der Gewalt zeigen. Man sieht dann oft ein schmerzverzerrtes
Gesicht - aber schon ist die nächste Szene da. Ich würde mir
vorstellen, dass die Machart der Filme daraufhin betrachtet werden muss,
ob nicht diese Leidensfähigkeit, diese Mitleidensfähigkeit des
Betrachters stärker angesprochen wird. Solche Aspekte aber kommen
in den Prüfkriterien der Freiwilligen Selbstkontrolle gar nicht vor.
Stattdessen bewertet man die Filme sehr schematisch. Eines dieser Kriterien
ist zum Beispiel, ob in Prügelszenen das Knacken von Knochen hörbar
ist oder nicht. Die Freiwillige Selbstkontrolle versucht also, die
Realität des Leidens zu vermeiden, aus der Sorge heraus, dass dies
die Brutalität verherrlicht. Wenn man also, so die Annahme, das
Bersten der Knochen nicht mehr hört, ist die Gewalt nicht mehr so
wahrnehmbar und der Film daher weniger problematisch.
Ich denke: das Gegenteil ist der Fall. Wer mal gehört hat, wie es
sich anhört, wenn Knochen bersten, der weiß: das geht unter
die Haut und führt unweigerlich dazu, dass man den Schmerz geradezu
spürt. Wenn ich aber die Gewalt nicht spürbar mache, kann ich
auch kein Mitleid erregen.
Wie sollte man also Filme
in Bezug auf den Jugendschutz bewerten ?
"Die Analyse müsste sehr viel genauer sein und sich weniger
an starren Kriterien orientieren. Bei Sexdarstellungen gibt es ja etwas
Ähnliches. Da ist es zum Beispiel nicht erlaubt, die Vergewaltigung
einer Frau so zu zeigen, dass diese im Verlauf der Vergewaltigung daran
Vergnügen empfindet. In Analogie dazu könnte man sagen, dass
eine Gewaltszene nur dann gezeigt werden kann, wenn sie auch das Leiden
und die Folgen der Gewalt im Laufe des Filmes zeigt und thematisiert.
Aber das ist eben auch eine Kunst und setzt einen wirklich guten Regisseur
und Drehbuchautor voraus.
Verbote helfen nicht, sondern
täuschen nur die Öffentlichkeit
Während weite Teile
der Öffentlichkeit und viele Politiker nach der Bluttat von Erfurt
eine Verschärfung des Jugendschutzes fordern, plädieren Sie
also eher für das Gegenteil.
"Verbote
von Filmen mit Gewaltinhalten werden nichts ändern und wer das fordert,
der täuscht die Öffentlichkeit. Was wir stattdessen brauchen,
ist eine Kultur des Redens, des Hinsehens und des Verarbeitens. Wenn
man den Deutschunterricht in den Schulen betrachtet, dann sieht man, dass
die Auseinandersetzung mit Filmen in den Lehrplänen bislang so gut
wie gar nicht vorkommt. Immer noch wird in den Schulen fast nur über
Texte diskutiert. Das wundert mich nicht, denn schließlich werden
auch die Lehrer im Studium so gut wie nie mit filmwissenschaftlichen Elementen
konfrontiert. Dabei gibt es mittlerweile genügend Filme, die es wert
sind, diskutiert zu werden. Was wir brauchen, ist eine bessere Erziehung
zum Umgang mit Massenmedien, bis hin zum Computer."
Welchen Umgang empfehlen
Sie in Bezug auf Computerspiele und deren Präsentation von Gewalt
?
"Bei Computerspielen gibt es zwar keine institutionelle Selbstkontrolle,
aber stattdessen werden die Hersteller auf Grund der Jugendschutzgesetze
häufig verklagt und die Konsequenzen sind ähnlich. Sehr deutlich
zeigt sich das bei dem Computerspiel Counterstrike. Die deutsche Fassung
musste gegenüber der amerikanischen Originalversion so verändert
werden, dass Blut grün eingefärbt ist. Das ist der
gleiche hilflose Versuch, Gewalt unsichtbar zu machen. Stattdessen
müsste man auch hier den umgekehrten Weg gehen und Gewalt bewusst
erkennbar machen."
Heißt das, Sie fordern
auch bei Computerspielen nicht weniger, sondern andere Gewaltdarstellungen
?
Genau! Schon jetzt bietet die Technik ja bereits verschiedenste Möglichkeiten,
dem Nutzer von Computerspielen Realität sehr direkt zu simulieren.
Meistens handelt es sich bislang jedoch nur um die Realität des
Täters, der zum Beispiel den Rückschlag einer Waffe über
den Joystick erlebt. Genauso müsste es doch auch möglich sein,
durch interaktive Spielsequenzen zu erreichen, dass man selber
zum Opfer wird. Natürlich kann man optische Darstellungen so
konzipieren, dass sie beängstigend sind. Auch hier ist die Gewaltdarstellung
an sich nicht das eigentliche Problem. Schwierig wird es erst dann,
wenn diese Spiele das Gefühl vermitteln, dass man ohne Konsequenz
für sich selbst andere quälen oder sogar töten kann.
"Toda" (Todesdarstellungen) nennen die Wissenschaftler
von der Freien Universität Berlin das von Professor Dieter Lenzen
geleitete Forschungsprojekt, mit dem sie klären wollen, ob
es eine Auswirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien auf reale Gewalthandlungen
und Aggressionsverhalten von Jugendlichen gibt. Seit dem 1. Mai läuft
das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der FU Berlin finanzierte
- und lange vor Erfurt geplante Projekt das innerhalb von zwei
Jahren Aufklärung bringen soll über "Mediale Kommunikationsprozesse
zur Todesthematik von weiblichen und männlichen Gymnasialschülern
der Sekundarstufe II". Bei dem Forschungsprojekt geht man von der
Annahe aus, dass die Betrachtung von Filmen keine direkte Wirkung hat,
vielmehr getreu der Erkenntnis, dass sich jeder Zuschauer seinen
Film selbst herstellt die Lebensgeschichte und eigne Todeserfahrungen
Einfluss darauf haben, wie Filme betrachtet werden. Die Grundfrage
der Rezeptionsforscher ist dabei, ob es eine Risikogruppe gibt,
die sich einen Film so konstruiert, dass er sie zur Gewaltanwendung animiert.
Quelle: Medienzeitschrift "CUT"
Heft 6+7/2002 www.cut-online.de
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