Nach Erfurt
Dr. Uwe Siemon-Netto "motzt" in "pro" gegen
Mißstände und Zeitgeist
Seit dem Amoklauf
am 26.04.2002 in Erfurt mit 17 Toten muss jeder, der sich ernsthaft
mit den Medien beschäftigt, schlaflose Nächte haben, mit
der Journalist und Theologe Uwe Siemon-Netto (Washington).
Unsere fernsehsüchtige
Gesellschaft leidet an Immunschwäche
Erfurt
hat auf dramatische Art die Immunschwäche unserer fernsehsüchtigen
Gesellschaft offenbart, die sich nicht nach oben orientiert, sondern
stets an den niedrigsten Vorbildern.
Schauen wir uns ihre
Idole an: einmal Graffiti schmierende Zoten grölende Ghettolümmel,
deren Hosenböden zwischen den Kniekehlen schlackern, zum anderen
wertelos aufgewachsene Psychopathen, die Menschenwürde für
das halten, was der Bildschirm ihnen pausenlos vorflunkert: für
die Macht, die aus dem Gewehrlauf kommt, wie Mao Zedong es formuliert
hatte.
Seit Erfurt weiß
ich: Auch wenn der Mensch nicht vom Affen abstammt, so rutscht er
doch behend auf dessen Niveau hinunter: Er äfft nach. Vor drei
Jahren flimmerten die Bilder vom Schulgemetzel in Colorado in jedes
deutsche Haus - wieder und wieder und wieder. Jetzt flimmerten solche
Bilder wieder nach Amerika zurück, und zwar aus einer vormals
hochkultivierten Stadt in Mitteleuropa.
Dies ist die Quittung
dafür, dass wir unsere Seele zynischen Medienmogulen verkauft
haben, die ohne Rücksicht auf die Folgen unsere Sucht nach
unten bedienen, indem sie in Berichten, Filmen und Computerspielen
die Gewalt glorifizieren. Die von ihnen betriebene Globalisierung
der Perversion und der Blutrunst wird uns vernichten, wenn wir den
transatlantischen Fluss von Bildern und Informationen nicht zäumen.
Wie kommen wir da heraus?
Dies ist kein Plädoyer
für eine Zensur. Wir können, um einen Spruch aus dem Vietnamkrieg
zu paraphrasieren, die Freiheit nicht retten, indem wir sie zerstören.
Aber die Freiheit bleibt uns nur erhalten, wenn an die Schaltstellen
der internationalen Medien Menschen rücken, die sich von Gott
zu diesem Amt berufen fühlen.
Bei diesem Gedanken überkommt
mich zuweilen der Zorn auf meine Mitchristen. Warum verkriechen
sie sich in ihre frommen Ghettos ? Warum emittieren gerade Evangelikale
und bekenntnistreue Lutheraner von früh bis spät Korinthen,
statt in der Welt,die Gott uns anvertraut hat, ihren Mann zu stehen
? Warum sorgen sie nicht dafür, dass die besten und begabtesten
unter ihnen Journalisten werden - oder Filmproduzenten oder Medienchefs
?
Sie sehen, dass unsere
mediengetriebene Welt aus dem Ruder gelaufen ist. Aber statt das
Ruder zu ergreifen, vertrösten sie sich feige mit dem Gedanken:
Na ja, wenn wir nur brav beten und unsere Ohren mit Lobpreismusik
kitzeln lassen, wird uns -uns -schon nichts Arges widerfahren.
Dr. Uwe Siemon-Netto,
Washington.
Er ist Journalist und Theologe. In pro "motzt" er gegen
Mißstände und Zeitgeist.
aus: PRO, die Medienzeitscrift
von KEP, Ausgabe 2 / 2002, www.kep.de
|