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Rat und HilfeVor 90 Jahren: Das Bühnenstück Cyankali gegen §218 wird ein Skandalerfolg
06.09.1929: Im Berliner Lessing-Theater wird das sozialkritische Schauspiel "Cyankali" uraufgeführt: Die 20-jährige Hete sorgt als Bürohilfe für ihre verwitwete Mutter und zwei kleine Geschwister. In der Weltwirtschaftskrise verliert sie ihre Arbeit und ist schwanger. Nachdem ihr Freund Paul aus der Kantine Lebensmittel entwendet, um den Frauen und Kindern von ausgesperrten Arbeitern etwas zu essen zu besorgen, wird er von der Polizei gesucht. Obwohl beide das Kind gerne bekommen würden, sieht Hete nun keinen anderen Ausweg als eine Abtreibung. Nachdem mehrere Versuche scheitern, nimmt sie eine Selbstabtreibung mit Zyankali-Tropfen vor. Der zur Hilfe gerufene Arzt zeigt sie und ihre Mutter wegen der Abtreibung bei der Polizei an. Auch ihr Freund Paul wird verhaftet, und das sterbende Mädchen Hete bleibt in ihrem Zimmer zurück. * * * Friedrich Wolf, der Autor des Stücks, war selber Arzt und kannte die Situation von Frauen im Schwangerschaftskonflikt aus seiner eigenen Praxis. Cyankali war 1929 ein Skandalerfolg. Heute ist das einst aufwühlende Stück vergessen, denn 45 Jahre später beschloss der Deutsche Bundestag die erste Änderung des §218. Seit 1995 bleibt Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen straffrei, wenn die Frau eine Beratung nachweisen kann. In §219 (StGB) heißt es dazu: Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Es geht deshalb meines Erachtens nicht in erster Linie darum, Gesetze zu ändern, sondern sie zu leben. Denn es kann doch nicht sein, dass in Deutschland für die Rettung von Banken Milliarden bereitgestellt werden, aber jährlich über 100.000 Kinder wegen einer Notlage nicht geboren werden. Uwe Schütz |