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Mission unter falscher Flagge?

In einer Reportage berichtete die ARD über "radikale Christen" in Freikirchen

ARD über "radikale Christen" in Freikirchen05.08.2014: „Die Story im Ersten“ - „Radikale Christen" mit „schlichtem Weltbild“ manipulieren ihre Gottesdienstbesucher und führen sie in eine emotionale Abängigkeit.

Das sollte wohl die Kernbotschaft der 45-minütigen Reportage „Mission unter falscher Flagge“ der NDR-Reporterinnen Mareike Fuchs und Sinje Stadtlich am gestrigen Montagabend ab 22.40 Uhr in der ARD sein.

1. Akt: Großveranstaltung „Holy Spirit Night“ in Stuttgart

"JESUS" steht in riesigen Lettern über der Bühne der Stuttgarter Schleyerhalle. Tausende Jugendliche treffen sich hier zur „Holy Spirit Night“, einem Gebetsabend mit viel Musik und ausgelassener Stimmung. Zwei junge Besucher erzählen, dass sie von Jesus so begeistert sind, dass sie dies auch anderen Menschen weitersagen wollen.

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Holy Spirit Night in der Hans-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart.
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Holy Spirit Night in der Hans-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart. Foto: AREF-Screenshot von ARD

Die NDR-Reporterinnen Mareike Fuchs und Sinje Stadtlich unterlegen das Bild der singenden Jugendlichen mit mystischer Musik. „Mit herkömmlichen Gottesdiensten hat das hier nichts zu tun“, heißt es von Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner aus dem Off.

2. Akt: Klinikum Bad Cannstatt, wo die Missionsopfer landen

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Das Klinkum Bad Cannstatt, wo die Menschen hinkommen, die mit dem Produkt Jesus nicht glücklich geworden sind"
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Das Klinkum Bad Cannstatt, wo die Menschen hinkommen, die mit dem Produkt Jesus nicht glücklich geworden sind" Foto: AREF-Screenshot von ARD

Joachim Schlecht, Pfarrer und Seelsorger am Klinikum Bad Cannstatt, äußert sich zu der Veranstaltung: „Das erinnert mich an Manager-Seminare und dann aber eher noch an die schlechteren (…) wie man sein Produkt am besten an den Mann bringt."

Überblendung auf das Klinikgebäude mit Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner aus dem Off:"Das Klinikum Stuttgart Bad Cannstadt. Hierher kommen auch die Menschen, die mit dem Produkt Jesus nicht glücklich geworden sind". Ein endlos lang erscheinender Flur (links im BIld) suggeriert mir, dass es viele Menschen sind. "Um sie kümmert sich auch Pfarrer Joachim Schlecht, die mit dem Produkt Jesus nicht glücklich geworden sind, redet mit ihnen über ihre Erlebnisse in diesen sogenannten charismatischen Gemeinden.

 

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Joachim Schlecht, Pfarrer und Seelsorger am Klinikum Bad Cannstatt
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“ am Montag, ab 22.40 Uhr in der ARD: Joachim Schlecht, Pfarrer und Seelsorger am Klinikum Bad Cannstatt attestiert den Verantwortlichen schlechte Produktwerbung.
Foto: AREF-Screenshot von ARD

„Ich habe den Eindruck, dass der Glaube als Machtmittel benutzt wird und Menschen damit auch manipuliert werden. Und nicht die Freiheit, die das Evangelium transportieren will, nicht rübergebracht wird. (...) Ich empfinde es als eine Art von Gewalt, die da ausgeübt wird.“, so Pfarrer Schlecht.

3. Akt: Opfer des „Gospel-Forum“ Stuttgart

Ehemalige Mitglieder des „Gospel-Forums“ Stuttgart, einer der wohl größten deutschen Freikirchen, berichten anonym von Eheseminaren, in denen erklärt worden sei, dass die Ehefrau jederzeit die sexuellen Wünsche des Partners zu erfüllen habe. „Der Gottesdienstbesuch reicht nicht aus“, wird von der Off-Stimme erklärt, man solle auch an Bibelabenden und Hausgruppen teilnehmen. Und wenn man da erstmal drin sei, dann „ziehe sich die Schlinge langsam zu“, heißt es von einem anonymen ehemaligen Mitglied. Im Bild zu sehen sind hunderte zufriedene Gemeindemitglieder, zu Wort kommt eine handvoll Unzufriedener, die über Manipulation sprechen.

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Gabriele Wentland, Leiterin von „Mission Freedom“, die sich in Hamburg gegen Zwangsprostitution stark macht und Aussteigerinnen hilft.
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Gabriele Wentland, Leiterin von „Mission Freedom“, die sich in Hamburg gegen Zwangsprostitution stark macht und Aussteigerinnen hilft.
Foto: AREF-Screenshot von ARD

4. Akt: „Mission Freedom“ bei Hamburg

Die nächste Kirche, auf die es die Journalisten abgesehen haben, ist die Freie Gemeinde Neugraben bei Hamburg samt des Vereins „Mission Freedom“, der sich gegen Zwangsprostitution einsetzt. Beide werden von der „ehemaligen Stewardess und selbsternannten Pastorin“ Gabriele Wentland geleitet, die für ihr Engagement 2013 den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen erhielt.

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jörn Blicke vom LKA Hamburg über die Organisation „Mission Freedom“
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jörn Blicke vom LKA Hamburg über die Organisation „Mission Freedom“
Foto: AREF-Screenshot von ARD-Sendung

 

Ausführlich berichten die NDR-Reporterinnen von einer DVD, die die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die viel sexuelle Gewalt erlebt hat. Jörn Blicke vom Landeskriminalamt Hamburg erklärt, dass die Geschichte so nicht stimmen kann.

Erst ganz am Ende wird klar, dass sich die junge Frau von der Organisation getrennt hat und die DVD nicht mehr verwendet wird.

5. Akt: Kommentar von Jürgen Werth, Deutsche Evangelische Allianz

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jürgen Werth, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz soll sich zu den Vorwürfen äußern.
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jürgen Werth, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz soll sich zu den Vorwürfen äußern.
Foto: AREF-Screenshot von ARD-Sendung

Da alle gezeigten Freikirchen und freien Werke Mitglieder der Deutschen Evangelischen Allianz sind oder ihr nahestehen, wird Jürgen Werth, der langjährige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, jeweils zu den Vorwürfen gehört. „Sie wollen mit Ernst und Freude Christ sein, ihren Glauben wirklich ernst nehmen und sie möchten, dass ihr Glaube ihr Leben bestimmt“, erklärt er. Gefragt nach den Statements unglücklicher „Aussteiger“ aus Kirchen, äußert er, dass man in jedem einzelnen Fall das Gespräch suchen müsse.

6. Akt: Sozialdiakonischer Dienst „Zukunft für dich“ in Berlin

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Ein Spielplatz der Initiative "Zukunft für dich" in Berlin
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Ein Spielplatz der Initiative "Zukunft für dich" in Berlin Foto: AREF-Screenshot von ARD-Sendung

Dann fahren die Reporter Richtung Berlin und zeigt den Stacheldraht eines ehemaligen Militärgeländes, hinter dem sich der „selbsternannte“ Evangelist Jörg Kohlhepp mit seiner Familie verschanzt haben. Kohlhepp leitet den sozialdiakonischen Dienst „Zukunft für dich“, der in einem Berliner Problemviertel Spielenachmittage für Kinder anbietet.

 

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Gernot Klemm vom Bezirksamt Treptow-Köpenick vergleicht Jörg Kohlhepp mit dem "Onkel, von dem Mann besser keinen Bonbon nehmen sollte".
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Gernot Klemm vom Bezirksamt Treptow-Köpenick vergleicht Jörg Kohlhepp mit dem "Onkel, von dem Mann besser keinen Bonbon nehmen sollte".Foto: AREF-Screenshot von ARD-Sendung

 

Da die Kinder bei solchen Anlässen auch Süßigkeiten erhalten, spricht man von „Lockangeboten“, und Gernot Klemm, Bezirksamt Treptow-Köpenick (links im Bild), vergleicht Kohlhepps Verein mit „dem Onkel, von dem man das Bonbon nicht nehmen soll“.

Als Kohlhepp mit seinen Kindern am Gartentor vom Kamerateam mit Fragen konfrontiert wird, lehnt er einen Kommentar ab.

7. Akt: „Freien christlichen Jugendgemeinschaft“ in Lüdenscheid

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Walter Heidenreich, Leiter der Freien Christlichen Jugendgemeinschaft (FCJG) in Lüdenscheid
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Walter Heidenreich, Leiter der Freien Christlichen Jugendgemeinschaft (FCJG) in Lüdenscheid Foto: AREF-Screenshot von ARD-Sendung

Am „Domizil“ des Vereins „Freien christlichen Jugendgemeinschaft“ (FCJG) in Lüdenscheid.ist die „Durchfahrt für Autos verboten“, erklärt die Off-Stimme bedeutungsschwer, es wird auf das entsprechende Schild an dem Waldweg gezoomt. Die „Hauptfigur“ hier sei Walter Heidenreich, von dem man Interview-Ausschnitte von Bibel TV gezeigt werden.

FCJG-Aussteiger berichten anonym, in Heidenreichs Veranstaltungen habe man seine Geldspende mit gestrecktem Arm zeigen müssen, um Gebet zu empfangen.

8. Akt: "Tübinger Offensive Stadtmission" (TOS)

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jobst Bittner, Gemeindeleiter der "Tübinger Offensive Stadtmission" (TOS)
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Jobst Bittner, Gemeindeleiter der "Tübinger Offensive Stadtmission" (TOS)
Foto: AREF-Screenshot von ARD
-Sendung

Gegen Ende der Sendung werden Szenen aus Gottesdiensten der TOS-Gemeinde Tübingen gezeigt: „Schreien und Zittern wird hier als Berührung mit dem heiligen Geist gedeutet“ und Gemeindeleiter Jobst Bittner erklärt in einem Interview: „Als Christ glaube ich natürlich, dass es Himmel, Hölle, ewiges Leben und auch Verdamnis gibt, und dass jeder Mensch irghendwann mal vor Gott stehen muss“.

9. Akt: Homosexualität

„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Der junge Reporter schlich sich mit versteckter Kamera in eine Heilungsversammlung und gab vor, von Homosexualität geheilt werden zu wollen.
„Die Story im Ersten" - „Mission unter falscher Flagge“: Der junge Reporter schlich sich mit versteckter Kamera in eine Heilungsversammlung und gab vor, von Homosexualität geheilt werden zu wollen.
Foto: AREF-Screenshot von ARD
-Sendung

Am Ende kommt die Frage an TOS-Gemeindeleiter Jobst Bittner: "Homosexualität - nur eine Sünde oder doch eine Krankheit?"

"Homosexualität ist keine Krankheit. Die Bibel selbst empfindet es als eine Lebensorientierung, einen Lebensstil, den sie nicht befürworet."

Es folgt der Einspieler einer TOS-Veranstaltung aus einer alten Panorama-Sendung , in die sich ein junger Reporter (links im Bild) mit homosexueller Orientierung mit versteckter Kamara begeben hat und sich hilfesuchend an den Referenten gewandt hat.


Wohl einzig mögliches Fazit der Sendung: Diese Christen sind gefährlich

Was haben die Zuschauer aus der Reportage gelernt? Christen „inszenieren“ sich, sie „manipulieren“ und „propagieren“ und haben dabei stets nur sich selbst, den Missionsbefehl oder Geld im Kopf. Wer kein Christ ist, sollte sich von denen fernhalten.

Christen wiederum können nur betrübt den Kopf schütteln. Warum setzen Journalisten singende und betende Jugendliche in einen bedrohlichen Kontext, statt ihren Glauben zu tolerieren?

Reaktionen auf die ARD-Sendung

idea-Redaktionsleiter Wolfgang Polzer

Die ARD stellt die Frommen unter Generalverdacht, meint idea-Redaktionsleiter Wolfgang Polzer, das 45-minütige Werk habe die Bezeichnung „Dokumentation” nicht verdient. Vielmehr erweckten die Autorinnen den Eindruck, dass sie sich von ihrer Arbeitsthese „Evangelikale sind gefährlich” auch durch ihre Recherche nicht abbringen lassen wollten. "Obwohl in der Ankündigung von einem „breiten Spektrum verschiedenster Glaubensgemeinden” unter den rund 1,3 Millionen Evangelikalen aus deutschen Landes-und Freikirchen die Rede war, beschränkte sich der Film auf wenige charismatische und pfingstkirchliche Organisationen am Rand der evangelikalen Bewegung. Als Kronzeugen dienten vor allem einzelne anonym zitierte Aussteiger. Aussagekräftig für einen breiten geistlichen Machtmissbrauch kann das wahrlich nicht sein. Unzufriedene Aussteiger kennen auch viele Schützenvereine, Freiwillige Feuerwehren oder politische Parteien."

Dr. Michael Diener, DEA-Vorsitzender, zur der Sendung auf ead.de

Der Beitrag habe deutlich gemacht, so Dr. Michael Diener, Vorsitzender der Deutschen Evangeischen Allianz, wie groß das Unverständnis über Glaubensformen sei, die sich mit der "klassischen kirchlichen Praxis" deckt. Leider ginge in der Dokumentation "vieles durcheinander", schrieb Diener auf ead.de, der Homepage der Ev. Allianz. Und: "Leider stellen die beiden Filmtitel wie auch die Zusammenstellung der einzelnen Filmbeiträge evangelikale Christen unter einen Generalverdacht."

Diener verband seine Kritik an der ARD-Reportage mit selbstkritischen Tönen. Christlicher Glaube solle befreien und nicht in die Abhängigkeit führen. Es sei notwendig, dass die Gruppen immer wieder überprüften, "ob die Erlebnisdimension des Glaubens überbetont wird oder die Gefahr der Manipulation von Menschen besteht", sagte der Allianz-Vorsitzende. "Durch Handzeichen eine Heilung von einer Depression anzuzeigen, ist ebenso unseriös, wie die Aufforderung, Spendengelder für alle sichtbar hochzuhalten."

Die Deutsche Evangelische Allianz stelle sich jedoch ausdrücklich hinter die Mitglieder ihres Hauptvorstandes und werde zugleich darauf hinwirken, "dass eventuelle substantielle Vorwürfe auch lückenlos aufgeklärt werden".

Fragen

  • Warum ist jedes ehrenamtliche Engagement verdächtig, wenn es bekennende Christen sind?
  • Warum muss man sich automatisch rechtfertigen, wenn man zu einer Freikirche gehört?
  • Wer ist nach der ersten Entrüstung über die Reportage bereit, nun mal genauer hinzuschauen, wie in "seiner" Freikirche Entscheidungsprozesse laufen und wo manipuliert wird?
  • Wo beginnt Missbrauch von Mitgliedern?
  • Der Ausdruck „Unter falscher Flagge“ bezeichnet eine Operation, bei der die Identität und die Absichten verschleiert werden. Sendungstitel „Mission unter falscher Flagge“ zutreffend?

Wenn die Sendung dazu beiträgt, dass Gemeindeverantwortliche ein neues Bewusstsein dafür bekommen, wie das Verkündete auf Gäste wirken kann, wie Entscheidungsprozesse laufen und wie überlastet viele Mitarbeiter sind, dann kann eine solch kritische Reportage ein Gewinn sein.

Autor dieser Webseite: Uwe Schütz

Quellen: ard.de, pro-medienmagazin.de, jesus.de und ead.de

Nachtrag: Die Betroffenen wehren sich gegen die Vorwürfe in der Doku

09.08.2014: Zur ARD-Dokumentation „Mission unter falscher Flagge“ über „radikale Christen in Deutschland“ haben die in der Sendung erwähnten Personen Stellung bezogen. Sie kritisieren die Recherchemethoden und die aus ihrer Sicht einseitige Berichterstattung mehr

 

 

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