Berliner Ladenschlussgesetz gekippt
Bundesverfassungsgericht: Ladenöffnungsgesetz mit Grundgesetz
unvereinbar
03.12.2009:
Die großzügige Berliner Regelung von 2006, die eine Ladenöffnung
an zehn Sonntagen im Jahr, darunter allen vier Adventssonntagen,
erlaubt, verstoße gegen den Sonntagsschutz des Grundgesetzes
("... Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel
140 des Grundgesetzes und Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung"),
urteilte das Bundesverfassungsgericht
am Dienstag, 01.12.2009, in Karlsruhe. Zudem werde das Recht auf
Religionsfreiheit verletzt. Das Gericht entsprach damit teilweise
den Verfassungsbeschwerden der evangelischen und der katholischen
Kirche. Kirchen, Gewerkschaften und Politiker bewerteten das Urteil
überwiegend positiv. (AZ: 1 BvR 285/07, 1 BvR 2858/07) Urteil
im Wortlaut (s.u.)
Berlin unterschreite ohne hinreichende Gründe Mindestmaß
des Sonntagsschutzes
Allerdings dürfen
die Läden an den drei verbleibenden Adventssonntagen dieses
Jahres noch öffnen. Das Verbot vier verkaufsoffener Adventssonntage
greift ab 2010. Die Verfassungsrichter argumentierten, die Berliner
Regelung unterschreite ohne hinreichende Gründe das gebotene
Mindestmaß des Sonntagsschutzes. Nach dem sogenannten Kirchenartikel
140, der aus der Weimarer Verfassung ins Grundgesetz übernommen
worden war, sind Sonntage grundsätzlich Tage der «Arbeitsruhe»
und der «seelischen Erhebung».
Wirtschaftliche Interessen und «Shoppinginteresse»
reichen nicht für Ladenöffnung
«Das gesetzliche
Schutzkonzept für die Gewährleistung der Sonn- und Feiertagsruhe
muss diese Tage erkennbar als solche der Arbeitsruhe zur Regel erheben»,
sagte Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier.
Bloße wirtschaftliche Interessen der Geschäftsinhaber
und das «Shoppinginteresse» der Kunden genügten
grundsätzlich nicht, um die Ladenöffnung an Sonn- und
Feiertagen ausnahmsweise zu erlauben. Die Richter wandten sich vor
allem gegen eine flächendeckende Ladenöffnung an mehreren
Sonntagen hintereinander. Die Freigabe eines geschlossenen Zeitblocks
von etwa einem Zwölftel des Jahres sei nicht mit dem Schutz
der Sonntagsruhe vereinbar.
Wowereit bezeichnet das Urteil als «Rückschritt für
das Christmas-Shopping»
Berlins Regierender Bürgermeister
Klaus Wowereit (SPD) hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zu den sonntäglichen Ladenöffnungszeiten in der Bundeshauptstadt
als «Rückschritt für das Christmas-Shopping»
bezeichnet. Zugleich verwies er am Dienstag darauf, dass das Urteil
prinzipiell Sonntagsöffnungen von Geschäften bestätige.
Aus der Begründung gehe nach seinem ersten Eindruck nicht hervor,
dass die Gesamtzahl von zehn verkaufsoffenen Sonntagen in Berlin
infrage gestellt würde.
Es müsse jetzt geprüft
werden, ob es künftig zehn oder nur acht Sonntage im Jahr sein
werden, an denen Geschäfte geöffnet werden dürfen,
sagte Wowereit. Dabei seien dann ein bis zwei Adventssonntage mit
einberechnet. Der Berliner Senat habe 2006 versucht, die Ladenöffnungszeiten
den «modernen Lebensbedingungen» anzupassen.
Vertreter der Kirchen äußerten sich zufrieden über
das Urteil
Vertreter der evangelischen
und katholischen Kirche äußerten sich zufrieden über
die Karlsruher Entscheidung. Das Urteil sei «unerwartet positiv»
ausgefallen, sagte Kardinal Georg Sterzinsky vom Erzbistum Berlin.
Er sei sehr froh, dass die Bedeutung des Sonntags als Tag der seelischen
Erhebung für Gesellschaft und Kirchen anerkannt worden sei.
Der Berliner evangelische Bischof Markus Dröge wertete das
Urteil als Stärkung der Feiertags- und Sonntagskultur.
Die Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischöfin Margot
Käßmann, und der Vorsitzende der katholischen Deutschen
Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, erklärten:
«Das ist heute ein guter Tag zum Schutz des Sonntags und ein
klares Signal gegen überbordenden Konsum.» Sie betonten,
mit dem Sonntagsschutz werde eine wichtige soziale Institution gewahrt,
die kulturelle Qualität des Zusammenlebens und der Raum für
die Freiheit der Religionsausübung.
Viele positive Reaktionen auf den Richterspruch auch von Politikern
Bundesjustizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte in Brüssel,
es handele sich zunächst einmal um eine Entscheidung zu den
Berliner Regelungen. Sie habe allerdings eine Orientierungsfunktion
für andere Bundesländer, in denen längere Öffnungszeiten
debattiert würden: «Es kommt dieser Entscheidung sehr
wichtige Bedeutung zu.»
Bundesinnenminister Thomas
de Maizière (CDU) sagte dem epd, das Urteil setze «einen
Anker in der werktäglichen Geschäftigkeit». Zudem
schaffe es auch bundesweit Klarheit. Der Konsum werde durch den
Richterspruch nicht eingeschränkt, betonte das Regierungsmitglied
und verwies auf die ausgeweitete Ladenöffnung an Werktagen.
Zudem werde die Sonntagsöffnung durch das Urteil nicht grundsätzlich
verboten. Sie müsse aber eine Ausnahme bleiben.
Auch aus den westdeutschen
Ländern gab es positive Reaktionen auf den Richterspruch. Bayerns
Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sprach von einem «unmissverständlichen
Signal» gegen die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Ähnlich äußerten sich die Länderchefs von Nordrhein-Westfalen
und des Saarlands, Jürgen Rüttgers und Peter Müller
(beide CDU). Landespolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern sprachen
sich für den Fortbestand der «Bäderregelung»
aus, die eine Ladenöffnung an bis zu 44 Sonntagen im Jahr in
Kur- und Erholungsorten erlaubt.
Auch Gewerkschaft und Einzelhandel können mit dem Urteil
gut leben
Für die Dienstleistungsgewerkschaft
ver.di sagte die stellvertretende Vorsitzende Margret Mönig-Raane,
mit dem Urteil werde den Auswüchsen der Sonntagsarbeit ein
Riegel vorgeschoben. Bundesweit könnten Millionen Einzelhandelsbeschäftigte
und ihre Familien den Sonntag nun gemeinsam genießen. Hingegen
hob der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels hervor, dass verkaufsoffene
Sonntage als Ausnahme weiterhin erlaubt sind. Gelegentliche Sonntagsöffnungen
seien für den Handel unverzichtbar, sagte Hauptgeschäftsführer
Stefan Genth.
Im Deutschlandfunk sagte
Verbandsprecher Hubertus Pellengahr, der Einzelhandel könne
mit dem Karlsruher Urteil im Allgemeinen gut leben. Jetzt bleibe
die neue Berliner Regelung abzuwarten: «Man muss sehen, ob
ein oder zwei Adventssonntage möglich sind.»
Quelle: jesus.de-Newsletter
vom 01.12.2009 / epd
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum
Sonntagsschutz im Wortlaut
Die Regelung über
die Öffnung von Verkaufsstellen an den Adventssonntagen in
§ 3 Absatz 1 Alternative 2 des Berliner Ladenöffnungsgesetzes
(BerlLadÖffG) vom 14. November 2006 (Gesetz- und Verordnungsblatt
für Berlin Seite 1045) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur
Änderung des Berliner Ladenöffnungsgesetzes vom 16. November
2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 580) ist
mit Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 140
des Grundgesetzes und Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung
unvereinbar.
Die vorgenannte Bestimmung
bleibt noch bis zum 31. Dezember 2009 anwendbar. Im Übrigen
werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. Das Land
Berlin hat den Beschwerdeführern deren notwendige Auslagen
zur Hälfte zu erstatten.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 01.12.2009 inklusive Begründungen unter http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20091201_1bvr285707.html
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